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Die Botschaft Der Novizin

Die Botschaft Der Novizin

Titel: Die Botschaft Der Novizin Kostenlos Bücher Online Lesen
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Schloss sprang auf. Mit einem tiefen Seufzer atmete sie aus. Sie brauchte eine ganze Zeit, bis sie ihre innere Spannung so weit auf Normalmaß gesenkt hatte, dass sie wieder handeln konnte.
    Um das Deckblatt aus Holz und Elfenbein zurückzuschlagen, musste sie beide Hände benutzen. Durch eines der Deckenfenster drang Licht herein und zugleich gedämpft der Lärm des abendlichen Treibens von der Piazza vor dem Kloster. Sehnsüchtig horchte sie auf diese Lebenszeichen, dann packte sie die Neugier und hielt sie fest. Sie beugte sich über die Handschrift und begann die Seiten zu untersuchen. Es waren große fleckige Pergamentseiten, auf denen die vierzeiligen Liniensysteme rot eingezeichnet waren. Der Platz war ausgenützt, kaum Rand war gelassen worden. Es war keine Prunkschrift, es war ein Gebrauchsbuch, wenngleich eines mit ungewöhnlich prachtvoller Ausstattung. Acht Zeilen mit Musiknotation waren gezogen, jeweils aus vier roten Linien bestehend. Auf, in oder unter den Zeilen lagen oder hingen goldene Neumen, die im Streulicht des Abends funkelten. Unter jeder Zeile befand sich der dazugehörige Text. Jeder Liedtext selbst enthielt zu Beginn eine bildgefüllte Initiale, von der aus dem inneren Textrand entlang eine Blumengirlande herablief, welche die jeweilige Anfangsseite einfasste.
    Isabella begann die Seiten rasch durchzublättern. Sie zähltezwanzig Bildinitialen, die beinahe alle Buchstaben des Alphabets aufwiesen. Doch keine Hinzufügung, kein Zusatzblatt, keine handschriftlichen Ergänzungen, keine sonstigen Auffälligkeiten konnte sie entdecken. Enttäuscht blätterte sie zum Anfang zurück. Was ihre Tante bewegt haben konnte, den Schlüssel für so wertvoll zu halten, dass sie ihn versteckte, konnte sie nach dem Durchblättern der Handschrift nicht nachvollziehen.
    Nur die Bilder in den Initialen entschädigten sie etwas. Der erste Bogen nach dem Deckblatt zeigte einen orientalisch aussehenden Mann, der sich hinter einer Säule verbarg und dahinter hervorsah. Mit Bart und Turban passte er so gar nicht in den Text. Die Säule wurde von einem »I« gebildet, das als Beginn des »Iubilate« stand. Die Augen hatte dieser geheimnisvolle Mensch so verdreht, dass er den Betrachter direkt ansah und ihm einen düsteren Blick zuwarf, als wolle er sagen: »Wehe, du verrätst mich!« Der Beduine oder Araber versteckte seine Hände. Nur das Gesicht war gut zu erkennen und wie ein Porträt gestaltet. Die Gesichtszüge waren so genau geformt, der dunkle Bart mit weißen Strähnen durchzogen, die Gewandfalten mit einem haarfeinen Pinsel so lebendig gezeichnet, dass man bei dem Halbdämmer, das sich über den Nonnenchor ausbreitete, glauben mochte, er lebe. Als wäre er die geheimnisvolle Person, die seine Tante und Suor Maria auf dem Gewissen hätte. Verstärkt wurde der Eindruck durch die Pflanzenranke, die sich die Säule entlang hinaufstreckte, schlanke, im oberen Teil sich auffächernde Gräser. Kaum hatte sie das gedacht, glaubte sie, die Gestalt hinter der I-Säule zwinkere ihr zu. Die Erkenntnis überraschte sie derart, dass sie mit aller Gewalt den Buchdeckel zuschlug.
    Sie atmete schwer. Das Geräusch des knallenden Deckels hallte im Nonnenchor nach und breitete sich von dort in den Kirchenraum hinein aus. Ihre Schreckhaftigkeit hatte sie verraten. Wenn sich dort unten jemand befand, wusste er jedenfalls,dass der Nonnenchor nicht menschenleer war. Rasch ließ sie die drei Schließen einschnappen und hastete hinter zum Beichtstuhl, setzte sich in den Priesterstuhl, betätigte den kleinen Hebel unter der Lehne und ließ die Tür aufschnappen. Jetzt war sie beruhigt. Bis Signora Artella, die vor dem Chor ihre Wachrunde drehte, den Chor aufschloss, würde sie über alle Berge sein.
    Isabella konnte sich jedoch noch nicht von dem Stuhl lösen. Sie hatte schließlich Zeit, bis zu den Vigilien geläutet wurde. Was sie nicht recht verstand, war die Tatsache, dass diese Neumenhandschrift so normal, so alles andere als ungewöhnlich wirkte. Sie verbarg buchstäblich nichts – und wenn, dann hatte sie es nicht entdeckt. Was machte dieses Buch so einzigartig?
    Sosehr sie ihr Gehirn auch anstrengte, sie konnte nicht dahinterkommen. Widerwillig stand sie auf und schlüpfte durch die Geheimtür. Am liebsten wäre sie noch einmal zurückgelaufen und hätte das Chorbuch ein weiteres Mal durchgeblättert. Ihr Gefühl sagte ihr, sie habe etwas Entscheidendes übersehen. Etwas, das so offensichtlich vor ihr gelegen hatte, dass sie

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