Die Botschaft Der Novizin
sich wieder gegriffen hatte. Doch dann rutschte er ihr in die Finger.
Unter ihren bloßen Füßen spürte sie den Terrazzoboden, der sie frösteln ließ. Unhörbar glitt sie nach vorne, immer darauf bedacht, keinerlei Geräusch zu verursachen. Sie zitterte, als sie vor dem riesigen Chorbuch stand. Was mochte es enthalten, dass Menschen für den Besitz des Schlüssels sterben mussten? Der Einband zeigte ein Bild, das ihr bis dahin gar nicht aufgefallen war, weil es in derselben Elfenbeinfarbe gehalten war wie der Rest: Jesus auf dem Schoß der Gottesmutter. Eine Pietà, nur dass Maria ein Spruchband in Händen hielt. Mit den Fingern fuhr Isabella die in weiße Elfenbeinplatten eingegrabenen Formen nach. Die Art der Vertiefung ließ keinen Zweifel aufkommen. Das Bild war irgendwann einmal eine Einlegearbeit gewesen, vermutlich mit Gold oder Silber ausgeschmückt, doch im Laufe der Zeit und durch den ständigen Gebrauch waren die feinen Edelmetallstreifen ausgebrochen. Nur in den Ecken konnte man sie noch erahnen. So hatte sich das Bild beinahe verflüchtigt. Nur das Spiel von Licht und Schatten in der Abenddämmerung ließ die Gravur hervortreten. Das Spruchband, das Maria über den Arm gelegt war, hatte eine Inschrift besessen. Und diese Inschrift kannte sie. Sie stand als Kürzel auf ihrem Schlüssel: I – N – R – I.
Womöglich deutete dies nur an, dass Schlüssel und Schloss zusammenpassten. Das galt es zu prüfen. Isabella suchte die Öffnung in der Schließe, steckte den Schlüssel hinein, der gut passte, und drehte ihn herum. Die erste Sperrvorrichtung bewegte sich, die Schließe sprang auf.
Isabellas Herz hüpfte vor Freude und Spannung. Was würde sie entdecken? Alte Bücher, das hatte sie von ihrem Vater erfahren, enthielten immer Geheimnisse. Manchmal waren bei Handschriften mehrere unterschiedliche Schriften zu einem Bandzusammengebunden. Während der vorderste Text bekannt war und den Buchtitel stellte, blieb der hintere oft im Dunkeln. Interlineare, das heißt handschriftliche Eintragungen der Besitzer zwischen den Zeilen, seien es Übersetzungen oder Kommentare zu den Sätzen des Buches, fanden sich ebenso häufig. Noch spannender wirkten handschriftliche Ergänzungen jeglicher Art mit textfremden Zusätzen, die nur den verbliebenen Platz ausnützten und vom eigentlichen Inhalt und Sinn völlig getrennten Gedankengängen folgten. Manchmal hatten Chronisten ein fertiges Buch mit zusätzlichen Blättern ausstatten lassen und einfach fortgeführt.
Ihre Hände waren feucht, als sie die zweite Schließe aufspringen ließ. Auch das gelang ohne größere Schwierigkeiten. Der Schlüssel hakte etwas, als sei er zu neu oder zu wenig gebraucht worden. Es konnte jedoch auch am Schloss selbst liegen, das sich in den Jahrhunderten des Gebrauchs abgenutzt hatte.
Als sie den Schlüssel in den Verschluss der dritten Schließe einführte, hatte sie das Gefühl, wie der Seefahrer Columbus einen neuen Kontinent zu betreten. So musste es gewesen sein, als vom Ausguck der Santa Maria aus der Ruf »Land in Sicht!« erschollen war. Sie versuchte, den Schlüssel zu drehen – und nichts geschah.
Jetzt zitterten ihre Hände umso mehr, und die Kälte, die unaufhaltsam von den Fußsohlen her in ihr hochkroch, war schlagartig wieder da. Alle Gedanken waren plötzlich wie aus ihrem Kopf fortgeblasen. Das neue Land war im Nebel der Verwirrung versunken. Warum funktionierte der Mechanismus nicht? Sie versuchte es erneut. Der Schlüssel ließ sich zwar einstecken, doch nicht drehen. Jetzt musste sie einen kühlen Kopf bewahren. Sie war die Tochter ihres Vaters, und der hatte bei Schwierigkeiten auch nie aufgegeben, sondern weiter probiert. Sie nahm den Schlüssel und drehte ihn in die andere Richtung. Er ließ sich ein Stück weit drehen, bis er auf Widerstand stieß. Und das war es dann.
Für einen kurzen Moment musste Isabella mit der Zunge über ihre Lippen fahren und ihren trockenen Mund mit Speichel füllen. Erst als sich ihre Hände beruhigt hatten und ihre rissigen Lippen einigermaßen feucht waren, konnte sie wieder nachdenken. Das Werk war gesichert, ungewöhnlich gesichert. Was musste es für Schätze enthalten? Ganz mutlos machte sie die Tatsache nicht, schließlich hatte auch Schwester Ablata die Schließe problemlos öffnen können. Es musste sich also nur um einen Trick handeln. Sie nahm den Schlüssel erneut in die Hand, drehte ihn rückwärts, bis sie den Widerstand spürte, danach wieder vorwärts – und das
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