Die Botschaft Der Novizin
es nicht hatte wahrnehmen können.
Als Kind war ihr so etwas einmal passiert. Am Kanal hinter ihrem Haus. Sie war während der Mittagszeit, in der die Stadt normalerweise in brütendes Schweigen verfiel, zur Anlegestelle hinausgegangen und hatte sich auf die Stufen gesetzt, die dort ans Wasser hinabführten. Ein unbestimmtes Gefühl hatte sie beunruhigt und davor gewarnt, sich zu rühren. So war sie sitzen geblieben. Unbeweglich wie eine Steinskulptur. Sie hatte sich bereits eine dumme Gans gescholten, die auf solchen Unsinn verfiel, und gerade ihren Fuß wegsetzen wollen, damit dieser nicht einschlief, als sich keine zwei Schritte neben ihr eine Ratte ins Wasser plumpsen ließ. Sie war ungewöhnlich groß gewesen, größer als alle Ratten, die ihr bis dahin begegnet waren. Und sie hatte direkt vor ihr gesessen, ein wenigim Schatten und so für sie unsichtbar. Hätte sie ihre Beine nur um ein Weniges bewegt, hätte sich die Ratte angegriffen gefühlt und zugebissen. Rattenwunden entzündeten sich, und die Entzündungen verliefen häufig tödlich. Die Ratte hatte sich nicht versteckt. Sie war riesig und gut zu sehen gewesen – und doch hatte sie das Tier nicht bemerkt, bis es sich gerührt hatte und ins Wasser geglitten war. Noch heute lief ihr ein Schauer über den Rücken, wenn sie nur daran dachte.
Isabella schob die Tür hinter sich zu, bis sie einschnappte. Jetzt stand sie in absoluter Finsternis in einem Raum, der wegen seiner Dunkelheit keine Größe zu haben schien. Nur die Geräusche wurden von den nahen Wänden gedämpft und verschafften dem Ohr einen gewissen Raumeindruck. Und in diesem Eindruck verstellte ihr ein Hindernis den Weg, das wurde Isabella schlagartig bewusst, als sie den ersten Schritt in Richtung Ausgang unternahm.
»Ist da jemand?«, flüsterte sie in die Finsternis hinein. So musste die Hölle sein, dachte sie, ein ungewisses Dunkel, das das Grauen nur andeutete, ohne es wirklich zu benennen. Es lauerte, doch wann es zuschlug, blieb ungewiss. »Ist da wer?«, flüsterte sie erneut. Ihre Furcht ließ ihren Atem in Stößen gehen, und ihr Puls pochte so laut, dass es in ihren Ohren widerhallte. »Ich weiß, dass da jemand ist!«, jammerte sie schließlich. Ihre Nase sog Luft ein, und in der lag ein seltsamer Geruch, den sie zu kennen glaubte und der doch so fremd und abweisend war, dass es ihr das Herz zusammenkrampfte.
»Du hast ein feines Gespür, mein Kind!«, hauchte es ihr aus der Dunkelheit entgegen.
Isabella fühlte, wie sich alle Haare ihres Körpers von ihr streckten, als wollten sie ihre Haut verlassen, dann verselbstständigte sich ihre Stimme und sie kreischte laut und anhaltend, ohne es verhindern zu können.
KAPITEL 22 »Beinahe unser gesamtes Leben besteht aus Glauben, Pater.« Der Alte hatte seine Worte wirken lassen, bevor er fortfuhr. »Das liegt daran, dass wir so gut wie nichts wissen. Wir sind in Wirklichkeit Maulwürfe, die keine Augen haben und in dunklen Gängen umherirren. Selbst das so genannte Wissen ist flüchtig. Oder wusstet Ihr wirklich, ob ich etwas zu essen bestellt hatte oder nicht? Nein. Wie konntet Ihr das auch? Ihr habt mir vertraut – oder sagen wir besser: geglaubt? Wir wissen, dass ein Boot uns trägt, und denken nicht an sein Kentern. Und doch geschieht es, wie uns die Seeleute berichten, dass das Wasser sich öffnet und unsere Schiffe verschlingt. Wir glauben jedoch daran, dass wir nicht diejenigen sind, die diesem Ereignis zum Opfer fallen, sonst würde sich niemand von uns aufs Wasser wagen.«
Daraufhin hatte Padre Antonio beschlossen, zu Fuß nach Hause zu gehen. Das erforderte zwar einen Umweg, doch sein Glaube an die relative Sicherheit der Gondeln war mit diesem Beispiel des Alten grundlegend erschüttert worden.
Jetzt bewegte er sich auf die Rialto-Brücke zu. Die Straßen belebten sich zusehends, obwohl es auf Mitternacht zuging. In keiner Stadt, in der er sich bislang aufgehalten hatte, quoll das Leben nachts derart an die Oberfläche. In Florenz herrschte nachts eine gähnende Leere, Augsburg, diese goldene Stadt nördlich der Alpen, wirkte wie ausgestorben, in Avignon verbellten allenfalls streunende Hunde den nächtlichen Wanderer, und in Neapel bewegten sich nur Huren und Diebe durch die finsteren Gassen. Rom bei Nacht besaß eine ganz eigene, verruchte Seele. In Venedig jedoch pulsierte das Leben. Je weiter er sich der einzigen Brücke über den Canal Grande näherte, desto vielgestaltiger wurde das nächtliche Treiben: Männer
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