Die Botschaft Der Novizin
allesamt in den Garten hinab ihren Lauf nahmen, hindeuten ließen. In einer Ecke stand eine Zielscheibe, wie man sie für das Schießen mit einer Armbrust verwendete. Der Pater wandte sich der Wand hiner ihm zu. Dort gab es nur einen Ort, der für einen Durchschlupf geeignet erschien: das Bild. Ansonsten wirkte die Mauer fest gefügt. Vorsichtig näherte er sich dem Bild, schließlich musste er damit rechnen, dahinter das Mädchen zu entdecken. Das Gemälde zeigte die Geburt der Gottesmutter. Anna, die Mutter Marias, lag im Bett, und die Hebamme hielt das Neugeborene in den Armen, bereits in weißes, weiches Linnen gewickelt, während der VaterJoachim von draußen durch das Fenster hereinschauen durfte. Kind und Frau seien wohlauf, versicherte die Darstellung. Das war keineswegs selbstverständlich; denn Anna hatte mit der kleinen Maria ein Kind zur Welt gebracht, das sie nach menschlichem Ermessen gar nicht mehr hätte empfangen dürfen, da ihre Zeit der Unfruchtbarkeit bereits begonnen hatte. Ein Wunder war demnach geschehen!
Padre Antonio trat vor das Bild und betrachtete es mit auf dem Rücken verschränkten Armen, als wolle er nur die Darstellung begutachten. Dabei überprüfte er es auf Auffälligkeiten. Er brauchte nicht lange zu suchen. Am linken Rand fand er abgeschabte Stellen. Dort hatten Finger durch häufige Berührung die Farbe abgegriffen. Zudem waren die Augen der Hebamme durchstochen, sodass man von innen hindurchsehen konnte. Vermutlich überprüfte man so, ob sich jemand im Gang befand, bevor man die Tür öffnete.
Der Geistliche zögerte keinen Augenblick. Er griff nach dem Rahmen und zog daran. Das Bild gab nach, als wäre es eine bemalte Tapetentür. Dahinter ging es über eine Stufe hinauf in einen Raum. Padre Antonio stieg ein, die Bildtür fiel hinter ihm zu, und er stand in völliger Dunkelheit. Bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten, hörte er nur, dass er hier nicht allein war.
KAPITEL 30 Isabellas Lippen spannten vor Aufregung. Ihre Hände zitterten, und sie fühlte sich, als hätte sie ein unbestimmtes Fieber gepackt. Ohne nach links und rechts zu sehen, lief sie durch die Gänge und hinauf zur Empore des Nonnenchors. Sie spürte ihr erhitztes Gesicht, spürte den schnelleren Herzschlag, der nicht vom Laufen kam, und sie musste sich dazu zwingen, nicht zu lärmen.
Dabei hatte sie sich so erschreckt, als hinter der Säule wieder
das Gesicht des Kerls mit seinem Turban erschienen war. Inder Nacht, bei Sternenlicht oder bei flackernden Lichtschatten, hatte er sich bewegt, und mit ihren überreizten Sinnen hatte sie die Figur für lebendig gehalten. Bei Tageslicht hatte sie schnell bemerkt, dass es sich nur um ein Gesicht als Ausschmückung eines Säulenkapitells handelte und sie die Säule selbst wohl mit dem Körper des Mannes verwechselt hatte. Stutzig hatte sie die Haltung gemacht, und sie hatte lange überlegt, wo sie diese schon einmal gesehen hatte. Wie der Blitz hatte sie die Erkenntnis getroffen, dass sie jener des Turbanträgers in der Neumenhandschrift ähnelte. Nein, nicht ähnelte, sondern glich. Das musste sie überprüfen. Dazu musste sie in den Chor und das Buch durchblättern.
Vor dem Bild der Geburt Marias blieb Isabella kurz stehen. Es schauderte sie, als sie an ihr Erlebnis neulich dachte. Doch die Neugier überwand ihre Furcht. Rasch zog sie die Abdeckung auf und trat ins Dunkel. Als die Tür hinter ihr zufiel, wagte sie zuerst keinen Schritt nach vorne. In ihren Kopf strömte die Dunkelheit ein wie eine schwere Flüssigkeit, die sie gegen den Boden drückte und dort festhielt. Ein Gefühl der Verlorenheit überfiel sie, als müsste sie sich überwinden, an einer Klippe einen Schritt ins Bodenlose zu tun. Sie traf die Entscheidung im Bruchteil eines Lidschlags, streckte die Arme aus und lief in die Finsternis hinein. Dennoch hielt sie für die kurze Strecke ans andere Ende der Finsternis die Luft an. Unbeschadet langte sie auf der Seite des Beichtstuhls an. Ihre Arme zitterten und machten es ihr beinahe unmöglich, nach dem Öffnungsmechanismus zu suchen. Nervös fingerte sie an der Vertäfelung herum, bis sie den Ring fand, der aus der Holztäfelung hervorstand. Sie zog daran und die Tür sprang auf.
Mit aller Vorsicht betrat sie den Nonnenchor. Trotz der hoch stehenden Sonne wirkte der Chor düster, erfüllt mit einer samtenen Mattigkeit, die geradezu spürbar war. Isabella wunderte sich, bis sie bemerkte, dass die Fenster mit schwarzen Tüchern
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