Die Botschaft Der Novizin
abträglich war.
Isabella suchte den nächsten Buchstaben und fand zuerst zwei weitere, ein »O« und ein zweites »I«, die beide nur mit Blumenornamenten geschmückt waren, bis sie auf das »R« stieß. In den Bogen des »R« war eine Madonna eingezeichnet worden, die durch eine goldene Krone als Himmelskönigin ausgewiesen war. Seltsamerweise schrieb sie in ein Buch, das aufgeschlagen in ihrer Linken lag. Die rosafarbene Feder korrespondierte mit ihrem roten Unterkleid. An der Stelle, an der die Stoffe zusammenstießen, wurde es von einer Fibel aus Edelsteinen gehalten. Die Schrift auf den Buchseiten war zu lesen, doch das Dämmerlicht der abgedunkelten Fenster ließ eine genauere Lektüre nicht zu.
Obwohl die Silberglocke der Kirche verkündete, dass die Beerdigung vorüber war, und Isabella sich darüber klar war, dass die Nonnen jetzt wieder an ihre Arbeit gehen würden, konnte sie sich von der Handschrift nicht losreißen. Sie musste auch die letzte Initiale finden.
Sie maß dem Rascheln in ihrem Rücken keine Bedeutung zu, bis eine sanfte Stimme sie ansprach: »Was führt Euch hierher, Isabella Marosini?«
Isabella wirbelte herum, sofort bereit, mit der Kerze zuzuschlagen, die neben ihr gelegen und die sie sofort gegriffen hatte. Doch der Mann mit der sanften Stimme war schneller. Mit einer Geschwindigkeit, die sie nicht recht begriff, fasste er sie am Handgelenk und entwand ihr das Schlaginstrument. Sie blickte in Augen, die so dunkel waren, dass sich die Kerzen darin widerspiegelten, die hinter ihr brannten.
»Wie ich sehe, habt Ihr den Schlüssel gefunden.«
Isabella erkannte trotz der Dunkelheit und trotz ihres Schreckens Padre Antonio.
»Ihr habt hier nichts zu suchen!«, zischte sie den Pater sofort an.
»So wenig wie Ihr!«, konterte der sofort und sah über ihre Schulter hinweg auf die Handschrift. Und sein Blick war mehr als begehrlich, wie Isabella feststellte.
»Ich bin eine Angehörige des Klosters«, wollte sie sagen, doch der Pater unterbrach sie sofort.
»Ihr seid keine Chornonne und noch nicht einmal eine Conversa mit niederen Weihen, sondern nur eine Educanda, ein Mädchen, das eine Ausbildung erhält. Ihr seid hier abgestellt, bis man Verwendung für Euch findet oder sich die Klostermitgift Eures Vaters erhöht, damit man Euch offiziell als Novizin aufnehmen kann. Demnach dürftet Ihr Euch nur in Begleitung einer der ehrwürdigen Mütter hier aufhalten.« Demonstrativ schaute er sich um. »Ich sehe jedoch keine der Nonnen herumsitzen.« Sein süffisantes Lächeln gefror zu einer Maske. »Ihr solltet also vorsichtig sein. Wenn Ihr mich verratet, verrate ich Euch. Und glaubt mir, Isabella Marosini, es gibt Konvente, die sind weit schlimmer als das, was Ihr von hier kennt.«
Er ließ Isabella los und schien sie nicht mehr zu beachten. Dafür trat er vor die Neumenhandschrift und begann darin zu blättern. Er beugte sich über jede einzelne Seite.
Isabella blieb stumm. Sie hatte keine passende Antwort. Allerdings war sie froh darüber, die richtige Initiale noch nicht aufgeschlagen zu haben. Der Pater konnte demnach nicht erkennen, wonach sie suchte.
»Ein wundervolles Buch. Es ist Jahrhunderte alt.«
Padre Antonio flüsterte diese Sätze, als verbiete die Ehrfurcht vor dem Alter der Schrift ein lautes Wort.
»Über sechshundert Jahre. Die Handschrift stammt aus der Gründungszeit des Klosters. Suor Ablata hat es mir gesagt.«
Der Pater blätterte vor und zurück und besah sich die Handschrift genau. »Das kann sein«, murmelte er. »Für die Niederschrift der Musik wurde ein einfaches Liniensystem verwendet. In manchen Gesängen gibt es nur eine einzige Linie, andere verwenden deren vier.« Der Pater richtete sich auf und sah Isabella an. »Die beiden Seiten, die Euer besonderes Interesse geweckt haben, Isabella, besaßen nur eine Notenzeile. Das sind die ältesten Teile der Handschrift. Alles andere ist jüngeren Ursprungs.« Dabei lachte er leise. »Wenn vierhundert Jahre jung zu nennen sind.«
Padre Antonio schien sie vergessen zu haben. Über das Buch gebeugt studierte er die Zeichnungen und Initialen, betrachtete die bunten Farben und die Ranken der Wurzel Jesse mit Neugier.
»Was genau habt Ihr gesucht, Isabella?«, fragte er plötzlich und richtete sich auf.
»Nichts«, antwortete sie. »Ich wollte sie mir nur in Ruhe ansehen. Während der Vigilien werden nur bestimmte Seiten aufgeschlagen. Die schönsten Abbildungen bleiben verborgen.«
Der Pater wollte etwas
Weitere Kostenlose Bücher