Die Botschaft Der Novizin
verhängt waren. Trauerverdunkelung. Nur wenigeKerzen brannten hinter gläsernen Abdeckungen und gaben ein trübes Licht ab.
Isabella trat rasch durch den Mittelgang, nahm im Vorbeigehen eine der Kerzen mit, die neben einer Kniebank in einem Halter steckten, und entzündete sie am Ewigen Licht. Das Licht dieser Kerze trug sie weiter bis zu den beiden Kandelabern, die links und rechts hinter dem Chorbuch aufragten und deren gewaltige Kerzen sie im Nu entzündete.
Sie blies ihre Handkerze aus, legte sie neben die Handschrift und fuhr zuerst mit den Fingern über die farbigen Steine des Buchdeckels, deren Kühle ein Prickeln in der Handinnenfläche auslöste. Mit ihrem Schlüssel öffnete sie die Schließen und hob den Deckel ab. Rasch blätterte sie weiter, bis zur Initiale »I«. Isabella fand ihre Vermutung bestätigt. Tatsächlich bestand eine sicherlich nicht zufällige Ähnlichkeit zwischen der Ausgestaltung des Buchstabens als Säule und dem Aufbau des Kapitells im Kreuzgang. Hinter beiden schaute ein turbangekleideter Araber hervor. Diese Gemeinsamkeit der beiden Figuren bestätigte ihre Vermutung.
So rasch es ihr möglich war, blätterte sie die übergroßen Seiten weiter. Wenn sie recht behielt, musste als nächster Buchstabe ein »N« auftauchen, das ebenfalls ausgemalt war. Tatsächlich schlug sie wenige Blätter später den Buchstaben auf. Doch ihre Enttäuschung war groß, als sie zwar das »N« als Initiale entdeckte, jedoch keine bildliche Darstellung darin. Hatte sie sich von einer Idee zu leicht verführen lassen? Sie bemerkte selbst, wie ihre Aufregung erlosch wie die Flamme einer Kerze, die man ausblies. So lange starrte sie auf das Pergament, dass die Konturen zu verschwimmen begannen. Vor dem unscharfen Blick ihrer Augen glitten Sinn und Zweck der Initialen auf dem Schlüssel zurück in ein düsteres Nichts.
Mit einem einzigen Schwung stemmte sie den Buchdeckel zu und hätte beinahe das Buch wieder verschlossen, als ihr Blick auf die Initialen des Einbands fiel. Auch dort waren die BuchstabenI, N, R und I zu sehen. Was ihr jedoch jetzt zum ersten Mal auffiel, war, dass sie allesamt einen Rubin in ihrem Buchstaben aufwiesen – und wenn sie sich nicht täuschte ...
Hastig hob sie den Deckel erneut an. Er schien ihr jetzt schwerer zu sein als vorher. Als sie die »I«-Initiale erneut aufschlug, fiel ihr der gemalte Edelstein im Turban des Arabers sofort ins Auge. Wieder packte sie jene Unruhe, die man spürt, wenn man dicht vor der Lösung eines Problems steht. Ihre Niedergeschlagenheit von eben war wie weggewischt. Isabella fühlte, wie ihr der Schweiß den Rücken hinablief, weil Deckel und Seiten über ein nicht unerhebliches Gewicht verfügten. Als sie beim nächsten Buchstaben anlangte, dem farbig nicht ausgefüllten »N«, nickte sie nur bestätigend. Ein rascher Blick hatte ihr gezeigt, dass kein Edelstein darauf zu finden war. Rasch blätterte Isabella weiter, mit tiefem Atmen gegen die Heftigkeit ihres Herzschlags ankämpfend. Aus dem Buch stieg ein betäubender Duft nach Alter auf, eine Mischung aus Moder und Verwesung. Manche Seiten waren offenbar lange nicht mehr umgewendet worden. Endlich tauchte am Kopfende einer Seite, inmitten eines Rankenwerks der Wurzel Jesse, das die Notation einfasste, eine weitere Initiale auf – und Isabella hätte beinahe laut aufgelacht. Während die Neumen hier rot leuchteten, schimmerte die Initiale in Gold. Der Buchstabe »N« war ausgemalt und enthielt die Darstellung eines Edelsteins am unteren Ende einer Spruchfahne. Es sah aus, als hielte der Stein die Fahne zu Boden. Ein Mönch, dem mit dem Band kaum leserliche Worte in den Mund gelegt worden waren, saß an einem Pult, davor mehrere Schüler, die ihm aufmerksam folgten. Er musterte mit einem beiläufigen Blick zur Seite den Betrachter und belehrte seine Schüler, seltsamerweise mit gesenktem Zeigefinger, als deute er auf etwas Besonderes. Zweimal hintereinander stieß Isabella die Luft aus. Sie war auf dem richtigen Weg.
Sofort blätterte sie weiter. Das »N«-Bild würde sie sich später genauer betrachten.
Der Gestank des Buches, je näher sie dem Schluss kam, nahm ihr beinahe den Atem. Die Feuchtigkeit der Lagune und ihrer Kanäle ließ das Pergament Nässe ziehen und langsam verrotten. Wenn es trocken lagerte, konnte Pergament Jahrhunderte, ja sogar Jahrtausende überstehen. Im vorliegenden Fall wurden die ersten Seiten häufig benutzt, die hinteren seltener, was der Belüftung der Bögen
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