Die Botschaft des Feuers
Alchemisten nennen diesen Prozess: das Große Werk.
Der Mann, den wir Galen March nennen - ihr habt ja seine Geschichte gelesen, deshalb wisst ihr das schon -, war der Erste in tausend Jahren, dem es gelungen ist, den ersten Teil dieses Rätsels zu lösen.«
Ich sah Rodo an und sagte: »Galen spielt eine so wichtige Rolle in dieser ganzen Angelegenheit. Aber was ist aus ihm geworden?«
»Der ist für eine Weile en retraite , ebenso wie deine Mutter«, erwiderte Rodo. »Er hat euch beiden das hier geschickt.«
Er reichte mir ein Päckchen, ähnlich dem, das Tatjana uns gegeben hatte, nur etwas kleiner. »Das könnt ihr lesen, wenn ich wieder weg bin. Ich denke, es wird euch bei eurer Suche morgen sehr nützlich sein. Und vielleicht auch noch darüber hinaus.«
Ich hatte noch so viele Fragen, aber als Rodo sich erhob, standen Wartan und ich auch auf.
»Da Kat dich offenbar zur ersten der verborgenen Figuren geführt hat, direkt hier in Washington, kann ich mir in etwa vorstellen - auch ohne einen Blick auf die Karte zu werfen, die ihr vor mir verbergt -, wo ihr morgen eure Ernte einfahren werdet.« Als Rodo zur Tür ging, warf er uns noch einen Blick über die Schulter zu. »Ihr beiden zusammen, das ist perfekt. Das ist das Geheimnis, wisst ihr«, sagte er. »Die Vermählung zwischen Schwarz und Weiß, von Geist und Materie - die seit
der Antike als ›alchemistische Vermählung‹ bekannt ist -, die einzige Art, wie die Welt überleben wird.«
Ich spürte, wie ich dunkelrot anlief. Ich konnte Wartan nicht einmal ansehen.
Dann war Rodo auch schon in die Nacht verschwunden.
Nachdem wir uns wieder gesetzt hatten, goss ich uns noch einen Brandy ein, während Wartan das Päckchen mit Charlots Briefen öffnete und begann, laut vorzulesen.
DIE GESCHICHTE DES ALCHEMISTEN
Es war im Jahr 1830, als ich das Geheimnis der Formel entdeckte, genau wie es geweissagt worden war.
Ich lebte im Süden, in Grenoble, als Frankreich erneut in die Qualen einer Revolution stürzte, die wie immer ihren Ausgang in Paris nahm. Unser Land befand sich wieder einmal im Aufruhr, wie es auch zur Zeit meiner Geburt der Fall gewesen war - als meine Mutter Mireille die Barrikaden gestürmt hatte, um mit den Bonapartes nach Korsika zu fliehen, und als mein Vater Maurice Talleyrand zuerst nach England und dann weiter nach Amerika geflohen war.
Aber in dieser Revolution sollten die Ereignisse einen ganz anderen Verlauf nehmen.
Im Juli 1830 hatte der Bourbonenkönig Karl X. - nachdem er während seiner sechsjährigen Herrschaft die Bürgerrechte widerrufen und die Nationalgarde aufgelöst hatte - endgültig das französische Volk gegen sich aufgebracht, als er die Richter entließ und alle unabhängigen Zeitungen verbot. In jenem Juli, als der König Paris verlassen hatte und sich auf einem Jagdausflug zu einem seiner Landgüter befand, riefen das Bürgertum und das Volk von Paris nach dem Marquis de Lafayette,
dem einzigen Adligen der alten Garde, der die Wiederherstellung unserer Freiheiten für sinnvoll hielt, und betrauten ihn im Namen des Volkes mit der Aufgabe, eine neue Nationalgarde aufzustellen und dafür landesweit zusätzliche Mitglieder zu rekrutieren und Munition zu beschaffen. Schließlich wurde Louis-Philippe, der Herzog von Orléans, zum Bürgerkönig gekrönt und bekannte sich zu dem Ziel, die konstitutionelle Monarchie wiederherzustellen. Karl hatte mittlerweile abgedankt und war im Begriff, sich nach England abzusetzen.
Ich selbst lebte damals glücklich und zufrieden in Grenoble, und die politischen Ereignisse hatten für mich keinerlei Bedeutung. So wie ich die Dinge voraussah, fing mein Leben gerade erst an.
Mit meinen siebenunddreißig Jahren - genau in diesem Alter hatte mein Vater meine Mutter kennengelernt - war ich voller Lebensfreude und stand kurz vor meiner Erfüllung. Meine Gabe des zweiten Gesichts war zurückgekehrt, und ebenso meine Kraft. Und als hätte das Schicksal persönlich interveniert, lief alles auf außergewöhnliche Weise zusammen.
Und zu meinem größten Erstaunen war ich bis über beide Ohren verliebt. Haidée - mittlerweile zwanzig Jahre alt und von noch hinreißenderer Schönheit als zu dem Zeitpunkt, an dem ich sie kennengelernt hatte - war inzwischen meine Frau und erwartete unser erstes Kind. Ich war voller Vertrauen darauf, dass wir schon bald das idyllische Liebesleben würden führen können, nach dem mein Vater sich sein ganzes Leben lang verzehrt hatte. Und ich hatte ein Geheimnis,
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