Die Botschaft des Feuers
ekelhafter und entwürdigender Anblick. Vor seinen Augen verwandelte sich die irdische Existenz seines Freundes in weiße Asche.
Das war also der Tod.
Auf die eine oder andere Weise sind wir jetzt alle tot , dachte Byron verbittert. Aber Percy Shelley hatte so viel vom dunklen Gift des Todes getrunken, dass es für ein Leben ausreichte, oder?
Während ihrer gemeinsamen Wanderungen in den vergangenen sechs Jahren waren die Lebenswege der beiden berühmten Dichter untrennbar miteinander verwoben gewesen, angefangen mit dem selbst gewählten Exil - sie hatten im selben Jahr und Monat, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, England verlassen - und dann während ihres Aufenthalts in der Schweiz. Anschließend war es weitergegangen nach Venedig, von wo es Byron schon vor zwei Jahren wieder fortgezogen hatte, und schließlich hatten sie sich in Byrons Palazzo im nahe gelegenen Pisa wiedergesehen, wo Shelley wenige Stunden vor seinem Tod in sein Boot gestiegen war. Beiden war der Tod stets auf den Fersen gewesen - hatte sie verfolgt und gejagt und beinahe in den Strudel gerissen, der sich zu drehen begonnen hatte, nachdem sie Albion den Rücken gekehrt hatten.
Vorausgegangen war, dass Shelleys erste Frau Harriet Selbstmord begangen hatte, nachdem Shelley sich vor sechs Jahren mit der damals sechzehnjährigen Mary Godwin, seiner jetzigen Frau, auf den Kontinent abgesetzt hatte. Dann hatte sich Marys Halbschwester Fanny, die, nachdem das Liebespaar das Weite gesucht hatte, allein bei ihrer grausamen
Stiefmutter hatte bleiben müssen, das Leben genommen. Kaum hatten sie sich von dem Schlag erholt, war Percys und Marys kleiner Sohn William gestorben. Und dann, im vergangenen Februar, hatte die Schwindsucht Shelleys besten Freund und sein großes Vorbild »Adonis«, den jungen John Keats, in Rom dahingerafft.
Byron trauerte immer noch um seine vor wenigen Monaten verstorbene fünfjährige Tochter Allegra, sein »leibliches« Kind mit Mary Shelleys Halbschwester Claire. Wenige Wochen bevor Shelley ertrunken war, hatte er Byron von einer Erscheinung berichtet: Er hatte Byrons kleine Tochter gesehen, die ihm vom Meer aus zuwinkte und ihn aufforderte, zu ihr zu kommen. Und jetzt hatte Shelley so ein grausiges Ende gefunden: zuerst den Tod durch Ertrinken und dann den Tod durch Verbrennen.
Trotz der unerträglichen Hitze lief Byron ein kalter Schauer über den Rücken, als er die letzten Stunden seines Freundes noch einmal im Geiste durchlebte.
Am späten Nachmittag des 8. Juli hatte Shelley Byrons Palazzo Lanfranchi in Pisa verlassen und war zu seinem kleinen Boot, der Ariel , geeilt, das an der Küste vor Anker lag. Gegen jeden guten Rat, unter Missachtung des gesunden Menschenverstandes und ohne irgendjemanden darüber zu informieren, hatte Shelley die Leinen losgemacht und war mitten in einen aufziehenden Sturm gesegelt. Warum? , fragte sich Byron. Oder wurde er verfolgt? Und wenn ja, von wem? Und aus welchem Grund?
Im Nachhinein schien das die einzig plausible Erklärung zu sein, wie Byron am Morgen klar geworden war. Ganz plötzlich hatte er etwas begriffen, was er gleich zu Anfang hätte sehen müssen: Percy Shelleys rätselhafter Tod auf dem Meer war kein Unfall gewesen. Sein Tod stand vielmehr im
Zusammenhang mit etwas, das sich auf dem Schiff befand oder das jemand dort vermutete. Sobald die Ariel aus ihrem nassen Grab geborgen wurde, und das würde bald passieren, würde man ganz gewiss feststellen, dass sie von einer Felukka oder einem anderen größeren Schiff in der Absicht gerammt worden war, sie zu entern. Aber Byron war sich auch ziemlich sicher, dass die Angreifer nicht fündig geworden waren.
Denn er hatte das Gefühl, dass es Percy Shelley, einem Mann, der nie an die Unsterblichkeit geglaubt hatte, gelungen war, ihm aus seinem Grab heraus eine Nachricht zu übermitteln.
Er wandte sich zum Meer hin, damit die anderen, vom Feuer abgelenkt, nicht sahen, wie er vorsichtig das dünne Bändchen aus seiner Brusttasche zog, das er unbemerkt eingesteckt hatte: ein Büchlein mit den letzten Gedichten von Keats, das kurz vor dem Tod des Dichters in Rom erschienen war.
Das durchnässte Bändchen war genau dort gefunden worden, wo Shelley es hingesteckt hatte - in der Tasche seines viel zu kleinen Schuljungenjacketts. Ein Lesezeichen markierte die Seite mit Shelleys Lieblingsgedicht von Keats, Der Fall des Hyperion , das von dem mythologischen Krieg der Titanen gegen die neuen, von Zeus angeführten Götter
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