Die Botschaft des Feuers
Cambridge-Universität in England verteilt hatte. Es handelte sich um zwei in Papier eingeschlagene schmale Notizbücher - ein braunes und ein blaues -, die fortan als »das braune und das blaue Buch« bekannt wurden. Sie beinhalteten hauptsächlich Sprachspiele.
Lily und ich kannten natürlich jemanden, der eine Leidenschaft für derartige Spiele besaß und der ebenfalls einige Traktate zum Thema veröffentlicht hatte, darunter eins über die
Texte von Wittgenstein. Das Verrückte war, dass er außerdem mit einer genetischen Eigenheit geboren war: Er hatte ein blaues und ein braunes Auge. Dieser Mann war mein Onkel Slawa, Dr. Ladislaus Nim.
Mir war klar, dass diese fein gewobene Nachricht mit verstellter Stimme einen bedeutungsvollen Kern enthielt, den wahrscheinlich nur meine Mutter durchschauen würde. Womöglich handelte es sich um etwas, das sie dazu bewogen hatte, das Haus zu verlassen, ehe ihre eklektische Gästeauswahl eintraf.
Aber wenn es etwas Unangenehmes oder gar Gefährliches war, warum hatte sie dann die Nachricht auf dem Anrufbeantworter nicht gelöscht? Und warum machte Nim eine Anspielung auf Schach, ein Spiel, das meine Mutter verabscheute? Ein Spiel, von dem sie nicht die geringste Ahnung hatte? Worauf zielten seine Andeutungen ab? In Anbetracht der Hinweise, die darin versteckt waren, kam ich zu dem Schluss, dass seine Nachricht nicht nur für meine Mutter, sondern auch für mich bestimmt war.
Ehe ich den Gedanken weiterspinnen konnte, hatte Lily schon wieder die Abspieltaste gedrückt, und ich erhielt meine Antwort:
» Aber wenn es ans Anzünden der Kerzen auf der Geburtstagstorte geht «, sagte die Stimme mit dem beunruhigenden Wiener Akzent, von der ich inzwischen wusste, dass es Nims war, » meine ich, dass es an der Zeit wäre, das Streichholz an jemand anderen weiterzureichen. Wenn der Phönix sich wieder aus der Asche erhebt, sieh dich vor, sonst verbrennst du dich .«
» PIEP PIEP! ENDE DES BANDS! «, krächzte der Anrufbeantworter.
Dem Himmel sei Dank, dachte ich, denn ich würde es nicht ertragen, noch mehr zu hören.
Es konnte kein Irrtum vorliegen - die Leidenschaft meines Onkels für »Sprachspiele«, all die geschickt verteilten Schlüsselwörter wie »Opfer«, »Königsturnier«, »Indien« und »Verteidigung« … Diese Nachricht hatte eindeutig etwas mit dem zu tun, was sich hier abspielte. Und wenn ich seine Nachricht nicht verstand, konnte sich das als genauso großer, unabänderlicher Fehler erweisen wie jener fatale falsche Zug damals. Ich musste das Band unbedingt verschwinden lassen, bevor Wartan Asow, der unmittelbar neben mir stand - oder sonst jemand -, Gelegenheit bekam, den Zusammenhang herzustellen.
Ich nahm die Kassette aus dem Anrufbeantworter und warf sie kurzerhand in den Kamin. Während ich zusah, wie das Band und die Plastikhülle dahinschmolzen, begann das Adrenalin hinter meinen Augen zu pochen, als starrte ich in ein viel zu helles Feuer.
Ich kniff die Augen zu, um besser nach innen sehen zu können.
Die letzte Partie, die ich in Russland gespielt hatte - die schreckliche Partie, die meine Mutter für mich im Flügel noch einmal aufgebaut hatte -, war eine in der Schachwelt als die »Königsindische Verteidigung« bekannte Variante. Ich hatte die Partie vor zehn Jahren wegen eines Fehlers verloren, der sich aus einem Risiko ergeben hatte, das ich zu Beginn des Spiels eingegangen war - ein Risiko, das ich wegen seiner komplizierten Konsequenzen, die ich nicht hatte überblicken können, niemals hätte eingehen dürfen.
Worin hatte das Risiko damals bestanden? Ich hatte meine schwarze Dame geopfert.
Und mit einem Mal wurde mir bewusst, dass der Tod meines Vaters vor zehn Jahren - wer oder was auch immer ihn umgebracht hatte - im Zusammenhang damit stand, dass ich
meine schwarze Dame geopfert hatte. Es war eine Botschaft, die uns jetzt wieder einholte. In diesem Augenblick wurde mir etwas so klar wie die schwarzen und weißen Quadrate auf einem Schachbrett.
Meine Mutter befand sich in höchster Gefahr - vielleicht sogar in Lebensgefahr, so wie mein Vater damals in Russland. Und sie hatte das brennende Streichholz an mich weitergegeben.
Die Köhler
Die Carbonari (= Köhler) halten ihren Bund für ungemein alt …
Mithilfe von Worten und Zeichen, die nur ihnen bekannt waren,
leisteten die Köhler einander Beistand … Ähnliche Verbindungen
entstanden in vielen gebirgigen Ländern, und sie umgaben sich
mit großer Geheimthuerei.
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