Die Botschaft des Feuers
Geheimnisse
aus dem Kaschmirgebirge in das Tarik’at -Schachspiel einzuarbeiten. Das Schachspiel enthielt nunmehr nicht nur das alte alchemistische Wissen der Sufi und den Geheimen Weg, sondern auch das awa’il - »im Anfang« oder vorislamisches Wissen, das uralte Wissen, auf dem das alles seit Urzeiten basierte. Al-Dschabir hoffte, damit eine Art Lehrbuch geschaffen zu haben für all jene, die sich in zukünftigen Zeiten auf die Suche nach dem Geheimen Weg begeben würden.
Im Oktober 775, nur wenige Monate nachdem al-Dschabir sein Schachspiel am Hof von Bagdad präsentiert hatte, starb der Kalif al-Mansur. Sein Nachfolger, der Kalif al-Mahdi, bestimmte die Mitglieder einer mächtigen Familie, den Barmakiden, zu seinen Wesiren. Sie stammten von einer zoroastrischen Priesterfamilie aus Balkh ab und waren erst kürzlich zum Islam konvertiert. Al-Dschabir überredete sie, Experten aus Indien zu holen, die die alten Sanskrittexte ins Arabische übersetzen sollten.
Auf der Höhe der kurzen Zeitperiode, in der das alte Wissen wieder auflebte, widmete al-Dschabir seine Hundertundzwölf Bücher den Barmakiden. Aber die Ulama, islamische Gelehrte, und die obersten Regierungsbeamten von Bagdad erhoben Einspruch. Bestrebt, zu den Ursprüngen zurückzukehren, wollten sie derartige Bücher verbrennen und das Schachspiel mit seinen Figuren in tierischer und menschlicher Gestalt, das in ihren Augen an Götzenverehrung grenzte, zerstören.
Die Barmakiden jedoch erkannten die große Bedeutung des Spiels und seiner Symbole. Sie betrachteten es als imago mundi , als Abbild der Welt, das zeigte, wie im Kosmos Vielfalt aus Einheit - dem Einen - entsteht.
Die Gestaltung des Schachbretts war eine Art Spiegelbild einiger der frühesten Strukturen, die das Mysterium der Transformation von Geist und Materie, von Himmel und Erde darstellten,
darunter Abbildungen der vedischen und iranischen Feueraltäre und sogar von der großen, von Abraham und seinem ersten Sohn Ismael errichteten Kaaba, die schon vor dem Islam existierte.
Weil sie fürchteten, dass die Aufzeichnung von so viel bedeutendem Wissen aus politischen Gründen vernichtet werden könnte, vereinbarten die Barmakiden mit al-Dschabir, das Schachspiel an einen sicheren Ort schaffen zu lassen: nach Barcelona, einer Hafenstadt in der Nähe der Pyrenäen. Der maurische Statthalter, ein sufistischer Berber, so hofften sie, würde es beschützen. Es gelang ihnen gerade rechtzeitig, denn bald darauf wurden die Barmakiden entmachtet, und al-Dschabir fiel in Ungnade.
Es war Ibn al-Arabi von Barcelona, der das Schachspiel drei Jahre später über die Berge an den Hof Karls des Großen schickte.
Auf diese Weise gelangte das großartigste Instrument, das jemals das gesamte alte Wissen des Orients vereinte und in sich barg, in die Hände des ersten großen Herrschers im Westen, in dessen Besitz es sich seit über tausend Jahren befindet.
Schahin unterbrach sich und musterte Charlot im schwachen Licht des Feuers, das bis auf die Glut heruntergebrannt war. Charlot saß aufrecht im Schneidersitz da, aber seine Augen waren geschlossen. Inzwischen war es fast dunkel in der Höhle, selbst die Pferde schliefen. Draußen verlieh der Vollmond dem Schnee einen bläulichen Schimmer.
Charlot öffnete die Augen und schaute seinen Mentor mit großer Konzentration an, als versuchte er, etwas zu erkennen, was hinter einem Schleier verborgen lag - ein Blick, der Schahin
vertraut war, denn er war früher immer den prophetischen Weissagungen des jungen Mannes vorausgegangen.
»Heiliges Wissen und weltliche Macht haben von Anbeginn im Widerspruch zueinander gestanden, nicht wahr?«, sagte Charlot zögernd, als würde er sich gedanklich vortasten. »Aber mir scheint, dass vor allem das Feuer immer eine Rolle spielt. Al-Dschabir war der Vater der islamischen Alchemie, und für die Alchemisten war das Feuer eindeutig das wichtigste Element. Wenn al-Dschabirs Gönner in Bagdad, die Barmakiden, von zoroastrischen Priestern oder Magiern abstammten, dann haben ihre Vorfahren die heilige Flamme in den Feuertempeln gehütet. Es gibt ein Wort, das in fast allen Sprachen vorkommt und alle Berufe einschließt, die in alten Zeiten ein einziger Beruf waren, der mit Feuer und Opfer zu tun hatte: Schmied, Schamane, Koch, Metzger und auch den Priester, der das Opfer ausführt und die Opfergaben auf dem Altar verbrennt. Dieses Wort lautet mageiros und es bedeutet der Magus, der Großmeister, der »dreimal große«
Weitere Kostenlose Bücher