Die Botschaft des Feuers
Meister der Mysterien.
Ebenso wie die Feueraltäre, die indischen Zahlen, die astronomischen Tabellen, die Awa’il -Wissenschaft, von der du gesprochen hast, und auch das Schachspiel, stammen sie alle aus dem nördlichen Indien, aus Kaschmir. Aber was verbindet das alles miteinander?«
»Ich hoffe, dass deine Gabe uns diese Frage beantworten wird«, erwiderte Schahin.
Charlot schaute den Mann, den er als seinen Vater betrachtete, mit ernster Miene an. »Vielleicht habe ich die Gabe verloren«, sagte er schließlich. Es war das erste Mal, dass er den Gedanken aussprach, den er bisher nicht einmal sich selbst eingestanden hatte.
Schahin schüttelte langsam den Kopf. »Al-Kalim, du weißt,
dass dein Kommen unseren Völkern geweissagt war. Es stand geschrieben, dass eines Tages ein Prophet über den Bahr al-Azraq, den Blauen Fluss, kommen würde, einer, der mit den Geistern sprechen und dem tarik’at , dem mystischen Pfad der Weisheit, folgen würde. Wie du würde er einer mit heller Haut, blauen Augen und rotem Haar sein, er würde unter den Augen der Weißen Göttin geboren werden, der Figur, die auf die Felswand im Tassili gemalt ist. Achttausend Jahre lang hat sie gewartet, denn du bist das Instrument ihrer Rache, genauso, wie es geweissagt wurde. Es steht geschrieben: An dem Tag, wenn die Felsen und Steine zu singen anheben … und der Wüstensand blutige Tränen weint, … werde ich aufsteigen wie der Phönix aus der Asche … und das wird der Tag sein, an dem ich die Erde räche …
Du weißt, was über dich geweissagt wurde und was du über andere geweissagt hast. Aber es gibt etwas, was kein Mensch jemals wissen kann - was kein Prophet, so groß er auch sein mag, jemals voraussehen kann. Und das ist sein eigenes Schicksal.«
»Dann glaubst du also, dass alles, was meine Gabe beeinträchtigt, etwas mit meiner Zukunft zu tun hat?«, fragte Charlot überrascht.
»Ich glaube, dass es einen Mann gibt, der diesen Schleier lüften kann«, antwortete Schahin. »Wir werden ihn morgen im Rif-Gebirge aufsuchen. Sein Name ist Mulai ad-Darqawi, man nennt ihn auch ›der alte Mann aus den Bergen‹.«
Alle Dinge sind in ihrem Gegenteil verborgen - Gewinn in
Verlust, Gabe in Verweigerung, Ehre in Demütigung, Reichtum
in Armut, Stärke in Schwäche … Leben in Tod, Sieg in Niederlage,
Macht in Machtlosigkeit und so weiter. Wenn ein Mensch also
etwas finden will, so erdulde er es, etwas zu verlieren …
MULAI AL-ARABI AD-DARQAWI
Die Einsiedelei Bu-Berih Tal im Rif-Gebirge, Marokko
Mulai al-Arabi ad-Darqawi, der große shaikh des Sufi-Ordens Schadhili, der »alte Mann aus den Bergen«, lag im Sterben. Schon bald würde er sich jenseits des Schleiers der Illusion befinden. Schon seit Monaten erwartete er den Tod - und er hatte ihn willkommen geheißen.
Bis zu diesem Morgen. Jetzt hatte sich alles geändert.
Besser als jeder andere wusste der Mulai, dass Allahs Sinn für Ironie am Werk war. Er hatte sich darauf vorbereitet, in Frieden zu sterben, mit Allahs Busen zu verschmelzen, wie er es sich ersehnt hatte. Aber der hatte offenbar anderes mit ihm vor.
Warum wunderte er sich darüber? Der Mulai war lange genug ein Sufi, um zu wissen, dass man bei Allah immer mit dem Unerwarteten rechnen musste.
Und jetzt erwartete der Mulai eine Botschaft.
Unter seiner dünnen Decke lag er auf der Felsplatte, die ihm schon all die Jahre als Bett gedient hatte, die Hände über der Brust verschränkt. Neben ihm stand eine große Trommel mit einem einzelnen Trommelstock, der an der Seite befestigt war. Er hatte sie sich bringen lassen für den Fall, dass er sie plötzlich brauchen würde.
Auf dem Rücken liegend schaute er zum Oberlicht hoch, dem einzigen Fenster in seiner Einsiedelei, dem winzigen, weiß gekalkten Steinhaus hoch oben auf dem Berg, das ihm so lange als Heimstatt gedient hatte. Es würde ihm auch als Grab dienen, dachte er ironisch, wenn er erst zu einer Reliquie geworden war.
Draußen warteten bereits seine Jünger. Hunderte Getreue knieten im Schnee, in stilles Gebet vertieft. Sollen sie warten.
Hier bestimmt Allah, wann was passiert, nicht ich. Warum hielt der Allmächtige einen alten Mann wie ihn so lange auf? Das konnte nur bedeuten, dass es sich um etwas Wichtiges handelte.
Warum sonst hätte er sie hier auf den Berg geschickt? Zuerst Kauri, den Abgesandten des Bektaschi-Ordens, der sich seit seiner Flucht vor den Sklavenhändlern hier versteckt hielt. Seit Monaten schon behauptete der Junge, er und
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