Die Botschaft des Feuers
getroffen habe«, sagte Schahin. »Vor fünfzehn Jahren, als du ein Junge in Kauris Alter warst, ein Junge, der kurz davorstand, ins Mannesalter einzutreten, hast du gesehen , was ich dir gerade erzählt habe. Du sagtest, ich würde einen Sohn zeugen, der verborgen werden müsse, weil er von einem Meister des Feuers abstammen würde. Er würde ausgebildet werden von jenen, die über das Wissen von uralten Mysterien verfügen - den Mysterien, die dem Schachspiel innewohnen, das wir heute als das Montglane-Schachspiel kennen, ein Geheimnis, von dem es heißt, es berge die Macht, Zivilisationen zu erschaffen oder zu zerstören. Als al-Dschabir ibn Hayyan das Schachspiel vor über tausend Jahren erschuf, nannte er es das Spiel des tarik’at - des Geheimen Wegs der Sufi.«
»Von wem wurde dein Sohn über diese Mysterien unterrichtet?«, fragte Charlot.
»Nach dem Tod seiner Mutter kam Kauri im Alter von drei Jahren in die Obhut des großen Bektaschi-Sufi Baba Schemimi. Als die Türken im Januar Ioannina angriffen, wurde meinem Sohn die Aufgabe übertragen, eine wichtige Schachfigur in Sicherheit zu bringen, die sich im Besitz des Ali Pascha befand. Während Ioannina in die Hände des Feindes
fiel, war Kauri mit einer unbekannten Begleiterin unterwegs in Richtung Küste. Das ist das Letzte, was ich von ihm gehört habe.«
»Du musst mir alles erzählen, was du über die Geschichte des Schachspiels weißt«, sagte Charlot. »Und zwar jetzt, bevor wir im Morgengrauen ins Tal hinuntersteigen, um deinen Sohn zu suchen.«
Während Charlot in die Glut des Feuers schaute und versuchte, seine eigenen Gedanken zu ergründen, begann Schahin mit seiner Geschichte.
DIE GESCHICHTE DES BLAUEN MANNES
Im Jahr 773 nach dem westlichen Kalender arbeitete al-Dschabir ibn Hayyan bereits seit acht Jahren an dem Schachspiel. Mit Unterstützung von Hunderten versierter Handwerker schuf er das Tarik’at -Schachspiel für al-Mansur, den ersten Kalifen der neu gegründeten Stadt Bagdad. Niemand außer al-Dschabir wusste von dem geheimen Wissen, das sein Kunstwerk enthielt und das auf seinem großen alchemistischen Werk basierte, dem Buch der Balance , das er dem verstorbenen Scheich Dschafar al-Sadiq gewidmet hatte, dem wahren Vater des schiitischen Islam.
Al-Dschabir wähnte sich kurz vor der Vollendung seines Meisterwerks. Aber im Sommer jenes Jahres trafen überraschenderweise einige wichtige Abgesandte aus dem Kaschmirgebirge bei al-Mansur ein, eine Delegation, die geschickt worden war, um Handelsbeziehungen mit der neu gegründeten Abbasiden-Dynastie in Bagdad aufzunehmen. In Wahrheit befanden diese Männer sich auf einer Mission, von der niemand etwas ahnen konnte. Getarnt als zwei Geschenke in
Form von Beispielen moderner Wissenschaft, brachten sie uraltes, geheimes Wissen mit sich. Als Wissenschaftler wurde al-Dschabir eingeladen, an der Präsentation dieser wertvollen Schätze teilzunehmen. Die Erfahrung, die er dort machte, sollte alles ändern.
Das erste Geschenk war ein Satz astronomischer Tabellen aus Indien, in der die Planetenbewegungen der letzten zehntausend Jahre aufgezeichnet waren - Vorgänge am Himmel, die in den ältesten indischen Schriften wie zum Beispiel den Veden festgehalten sind. Das zweite Geschenk stiftete bei allen außer dem Hofalchemisten al-Dschabir ibn Hayyan Verwirrung.
Es handelte sich um »neue Zahlen« - neu für den Westen. Unter anderem besaßen diese indischen Ziffern einen Positionswert, das heißt, zwei parallel gesetzte Striche bedeuteten nicht »zwei«, sondern eins plus zehn, also »elf«.
Noch raffinierter war die Platzhalterfunktion der Ziffer - benannt nach dem arabischen sifr , was »leer« bedeutet -, die in Europa »null« genannt wird. Diese beiden numerischen Innovationen - heute »arabische Zahlen« genannt - sollten die islamische Wissenschaft revolutionieren. Sie existierten in Indien schon seit über tausend Jahren, aber es sollte noch weitere fünfhundert Jahre dauern, bis sie über Nordafrika nach Europa gelangten.
Al-Dschabir war außer sich vor Aufregung. Er hatte sofort den Zusammenhang zwischen den astronomischen Tabellen und den neuen Zahlen begriffen und wusste, dass sie sehr genaue Berechnungen ermöglichten. Und er sah den Zusammenhang zu einer anderen indischen Erfindung, die längst Eingang in die islamische Welt gefunden hatte: das Schachspiel.
Al-Dschabir brauchte weitere zwei Jahre, aber am Ende gelang es ihm, diese mathematischen und astronomischen
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