Die Botschaft des Feuers
Informationen erhalten, die sie dazu bewogen hatten, anstatt nach Norden in Richtung
Meer zu reiten, nach Westen in Richtung Gebirge auszuweichen.
Denn es gab nur ein Land, wohin man Schahins Sohn und seine junge Gefährtin verschleppt haben konnte: nach Marokko. Und es gab nur einen, der ihnen bei ihrer Suche nach den beiden helfen konnte: ein großer Sufi-Meister. Wenn sie ihn nur finden konnten. Man nannte ihn den »alten Mann aus den Bergen«.
Auf dem Felsvorsprung brachte Charlot sein Pferd neben Schahin zum Stehen. Dann lösten die beiden Männer ihre blauen Kopftücher und verstauten sie in ihren Satteltaschen. So nah an Fes war es besser, vorsichtig zu sein. Die Verschleierung, die in der Wüste und in den Bergen als Schutz gedient hatte, könnte sich im Land der Sunniten als gefährlich erweisen.
Im Schutz der hohen Berge schauten sie in das weite Tal hinunter. Weiter unten zogen Vögel ihre Kreise. An diesem magischen Ort traf man auf ein ungewöhnliches Zusammenspiel von Wasser: schmale Rinnsale, sprudelnde Quellen, wild strömende Bäche und herabstürzende Wasserfälle. Dort unter ihnen, umgeben von Vegetation, breitete sich ein Meer aus Dächern aus, die hellgrün im Licht der Wintersonne schimmerten, eine Stadt, in der die Zeit stehen geblieben zu sein schien - was tatsächlich der Fall war.
Das war Fes, die heilige Stadt der Schurafa, der Nachkommen des Propheten, und zugleich ein heiliger Ort für alle drei Richtungen des Islam, aber vor allem für die Schiiten. Hier auf dem Berg befand sich das Grab von Idris, dem Urenkel von Mohammeds Tochter Fatima, dem ersten Mitglied der Familie des Propheten, das vor über tausend Jahren den Maghreb
erreicht hatte, ein Land von ungeheurer Schönheit und düsteren Omen.
»Im Tamazight, der Sprache der Kabylen, gibt es ein Sprichwort«, sagte Schahin. »Es lautet: Aman d’iman - Wasser ist Leben. Das Wasser ist die Erklärung für die Langlebigkeit von Fes, einer Stadt, die selbst so etwas wie ein heiliger Brunnen ist. Es gibt zahlreiche vom ständig fließenden Wasser geformte Höhlen, die uralte Geheimnisse bergen - perfekte Zufluchtsorte.« Er holte tief Luft, dann fügte er leise hinzu: »Ich bin mir ganz sicher, dass mein Sohn sich hier befindet.«
Die beiden Männer saßen am flackernden Feuer in der großen Höhle oberhalb von Fes, in der sie bei Einbruch der Dunkelheit ihr Lager aufgeschlagen hatten. Schahin hatte seinen reich verzierten Stock beiseitegelegt, der in der Trommlergruppe der Kel Rela seinen hohen Rang anzeigte, und sein Bandelier aus mit Fransen versehenen Ziegenlederstreifen abgenommen, das die Tuareg über den Schultern trugen. Sie hatten ein Kaninchen erlegt, das sie anschließend brieten und dann hungrig vertilgten.
Was während der langen Reise zwischen ihnen unausgesprochen geblieben war, drängte sich nun unaufhaltsam in ihr Bewusstsein.
Charlot wusste, dass er seine Gabe nicht vollständig verloren hatte, aber ihm war auch klar, dass er sie nicht mit seinem Willen beeinflussen konnte. Beim Durchqueren der Wüste hatte er oft gespürt, wie das zweite Gesicht an ihm gezerrt hatte wie ein zerlumptes Waisenkind, das bettelnd an seinem Burnus zupfte. In solchen Augenblicken hatte er Schahin sagen können, welche Männer auf einem Marktplatz vertrauenswürdig
waren und welche habgierig, welche eine Frau und Kinder versorgen mussten, welche mit jemandem ein Hühnchen zu rupfen hatten. Dazu war er schon seit seiner Kindheit befähigt.
Aber welchen Nutzen hatte eine solch begrenzte Voraussicht angesichts der gewaltigen Aufgabe, die vor ihnen lag? Sobald es darum ging, Schahins Sohn zu finden, wurde seine Fähigkeit durch irgendeinen Widerstand blockiert. Nicht dass er gar nichts sehen konnte - es war eher wie eine optische Täuschung, eine schillernde Oase in der Wüste, von der man wusste, dass es sich um eine Fata Morgana handelte. Wenn es um Kauri ging, sah Charlot eine flimmernde Gestalt - aber er wusste zugleich, dass es nicht Kauri war.
Jetzt, als sie im flackernden Licht des Feuers zusahen, wie ihre Pferde sich an dem Futter gütlich taten, das sie in den Satteltaschen mit sich geführt hatten, brach Schahin das Schweigen.
»Hast du dich schon einmal gefragt, warum bei den Tuareg nur die Männer den blauen litham tragen, während die Frauen unverschleiert sind?«, fragte er Charlot. »Unser Schleier gehört zu einer Tradition, die noch älter ist als der Islam. Die Araber haben sich über den Brauch gewundert, als sie in
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