Die Bourne-Identität
Augenblick wohl durch den Kopf gehen? Wie würde man sich verhalten?
Der Patient versuchte das herauszufinden; es war wichtig für ihn. Er saß am Fenster, die Augen auf die Tragfläche der Maschine gerichtet, und beobachtete, wie der breite Flügel unter dem brutalen Aufprall der Winde vibrierte und sich bog. Die Luftströmungen wirbelten ineinander und prügelten die von Menschenhand gefertigte Röhre. Sie schienen seine Insassen warnen zu wollen, daß ihre Maschine unberechenbaren Gewalten der Natur nicht gewachsen war. Ein paar Gramm Druck über die Toleranzen hinaus - und die Tragflächen würden aus ihrer Verankerung gerissen, von den Winden zerfetzt werden. Wenn eine Reihe von Nieten sich löste, würde es eine Explosion geben, würde der heulende Sturz in die Tiefe folgen.
Wie würde er reagieren? Würde, abgesehen von der unkontrollierbaren Angst vor dem Tode, da noch etwas sein? Das war es, worauf er sich konzentrieren mußte; das war die Projektion, auf die Washburn ihn in Port Noir immer wieder hingewiesen hatte. Er erinnerte sich jetzt der Worte, die der Arzt gesprochen hatte:
»>Immer, wenn Sie eine Streßsituation beobachten - und Zeit dazu haben - bemühen Sie sich so gut Sie können, sich in den Zustand zu versetzen. Und dann lassen Sie zu, daß Ihr Bewußtsein sich mit Worten und Bildern füllt. Vielleicht finden Sie darin Hinweise.«
Der Patient fuhr fort, durchs Fenster hinauszustarren, und strengte sich bewußt an, zu seinem Unterbewußtsein vorzustoßen. Er fixierte die Augen auf die Naturgewalt auf der anderen Seite des Glases und ließ seinen Assoziationen freien Lauf - langsam drängten Worte und Bilder in sein Bewußtsein.
Da war wieder die Finsternis und das Rauschen des Windes, ohrenbetäubend, andauernd, an Lautstärke zunehmend, bis er glaubte, sein Kopf müsse zerplatzen. Sein Kopf ... Die Winde peitschten seine linke Gesichtshälfte, brannten auf der Haut, zwangen ihn, die linke Schulter zu heben, um sich zu schützen. Er hatte den Arm hochgehoben, die behandschuhten Finger seiner linken Hand hatten sich an einer Metallkante festgeklammert, seine rechte hielt einen ... einen Riemen; er hielt sich an einem Riemen fest, wartete auf etwas. Ein Signal ... ein blitzendes Licht oder ein Klopfen auf die Schulter oder beides. Das Signal! Er sprang. In die Finsternis, in den Abgrund. Sein Körper überschlug sich, taumelte, wurde in den Nachthimmel hinausgeschleudert. Er ... mit dem Fallschirm abgesprungen!
»Fühlen Sie sich nicht gut?«
Sein wahnsinniger Traum wurde unterbrochen; der nervöse Passagier neben ihm hatte ihn am linken Arm berührt - dem Arm, den er in die Höhe hielt, die Finger gespreizt, als wehrten sie einen Angriff ab. Sein rechter Unterarm lag über seiner Brust und preßte sich gegen seine Jacke, seine rechte Hand hielt das Revers gepackt, knüllte den Stoff zusammen. Und auf seiner Stirn standen dicke Schweißtropfen; es war geschehen. Das andere war kurz - in seinem Wahnsinn -aufgetaucht und hatte sich verdichtet.
»Pardon«, sagte er und ließ die Arme sinken. »Ich hatte einen schlechten Traum.«
Das Wetter klarte auf, der Flug der Caravelle wurde ruhiger. Das Lächeln in den gehetzten Gesichtern der Stewardessen wurde wieder natürlich.
Der Patient schloß die Augen. Die Bilder und Geräusche, die sich in seiner Phantasie so klar abgezeichnet hatten, verzehrten ihn. Er hatte sich aus einem Flugzeug gestürzt ... nachts ... Er war mit dem Fallschirm abgesprungen.
Wo? Warum?
Hören Sie auf, sich ans Kreuz zu schlagen!
Er griff, wenn auch zu keinem anderen Zweck, als seine Gedanken von dem Wahnsinn loszureißen, in die Brusttasche, holte den gefälschten Paß heraus und schlug ihn auf. Wie nicht anders zu erwarten, war der Name Washburn beibehalten worden; er war nicht ungewöhnlich, und sein Besitzer hatte erklärt, daß er nicht gesucht würde. Das Geoffrey R. freilich war in George P. geändert worden, so fachmännisch, daß man bei bloßem Augenschein die Fälschung nicht erkennen konnte. Auch das Foto war mit aller Sorgfalt eingeklebt worden.
Die Registriernummer war natürlich vollständig geändert. Das bot die Gewähr, daß sie nicht im Computer einer Grenzpolizei Alarm auslösen würde. Man zahlte ebensoviel für diese Garantie wie für die handwerkliche Kunst; denn sie erforderte Beziehungen zu Interpol und den Einwanderungsbehörden.
Überall an den Grenzen Europas wurden Zollbeamte regelmäßig dafür bestochen; sie machten nur selten Fehler.
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