Die Bourne-Identität
südlich von Paris, ging ein gebeugter alter Mann in einem zerschlissenen Mantel, die schwarze Baskenmütze in seiner Rechten, den Mittelgang hinunter. Die Glocken hallten durch das Mittelschiff. In Höhe der fünften Stuhlreihe blieb der Mann stehen und wartete, bis sie verstummten. Das war sein Signal. Während des Glockengeläutes hatte sich ein junger Mann, der so skrupellos war, wie ein Mensch nur sein konnte, in dem kleinen Gotteshaus umgesehen und jeden gemustert, den er drinnen oder draußen erspähen konnte. Hätte der Mann bei irgend jemandem Gefahr gewittert, hätte er sofort kurzen Prozeß gemacht und den Betreffenden umgelegt. Das war Carlos' Art, und nur Leute, die selbst verfolgt wurden, deren Leben keinen Pfifferling mehr wert war, arbeiteten als seine Helfershelfer.
Carlos vermied jegliches Risiko. Wenn man in seinen Diensten - oder von seiner Hand - starb, bestand der einzige Trost darin, daß dann ein nicht unerheblicher Geldbetrag seinen Weg zu trauernden Witwen und ihren Kindern finden würde - gewiß eine sehr eigenwillige Art, Mitleid zu zeigen.
Der Alte umklammerte seine Baskenmütze und lief weiter an den Stuhlreihen entlang, zu den Beichtstühlen an der linken Wand. Er ging zum fünften, schob den Vorhang auseinander und trat ein. Hinter dem hölzernen Trenngitter brannte eine einzelne Kerze. Er setzte sich auf die kleine Bank, und als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er den Mann in der Mönchskutte, der die Kapuze tief in sein Gesicht gezogen hatte. Der Bote versuchte sich nicht auszumalen, wie jener Mann aussah; es war besser so ...
»Angelus Domini«, sagte er.
»Angelus Domini, Kind Gottes«, flüsterte die kapuzenbedeckte Silhouette. »Sind deine Tage angenehm?«
»Sie neigen sich dem Ende zu«, erwiderte der alte Mann und hatte damit das Codewort genannt, »aber ich bin versorgt.«
»Gut. Es ist wichtig, wenn man in Ihrem Alter ein Gefühl der Sicherheit hat«, sagte Carlos. »Nun zur Sache. Haben Sie die Informationen aus Zürich bekommen?«
»Die Eule ist tot; zwei andere auch, vielleicht sogar ein Dritter. Einem anderen ist die Hand schwer verletzt worden; er kann nicht arbeiten. Cain ist verschwunden. Man vermutet, daß die Frau bei ihm ist.«
»Eine seltsame Wendung der Ereignisse«, sagte Carlos.
»Ich habe noch mehr Neuigkeiten: Man hat von dem, der die Anweisung hatte, die Frau zu töten, nichts mehr gehört. Er sollte sie zum Mythen-Quai bringen; niemand weiß, was dort geschehen ist.«
»Es ist möglich, daß sie nie eine Geisel war, sondern der Köder für eine Falle, die hinter Cain selbst zugeschnappt ist. Darüber will ich nachdenken. Hier sind meine weiteren Instruktionen. Sind Sie bereit?«
Der alte Mann griff in die Tasche und holte einen Bleistiftstummel und einen Fetzen Papier heraus. »Ja.«
»Rufen Sie Zürich an. Ich möchte, daß morgen ein Mann nach Paris kommt, der Cain gesehen hat und ihn wiedererkennt. Außerdem soll >Zürich< sich bei Koenig in der Gemeinschaftsbank melden und ihm sagen, daß er das Tonband nach New York schicken soll, an das Postfach im Village Station.«
»Bitte etwas langsamer«, unterbrach der alte Bote, »meine Hand schreibt nicht mehr so schnell wie früher.«
»Verzeihen Sie«, flüsterte Carlos. »Ich war in Gedanken und daher unhöflich. Entschuldigen Sie.«
»Keine Ursache. Bitte weiter.«
»Schließlich soll unser Team sich Zimmer in der Nähe der Bank an der Rue Madeleine nehmen. Diesmal wird die Bank Cains Untergang sein.«
11.
Bourne beobachtete aus einiger Entfernung; wie Marie im Berner Bahnhof auf die Bahnsteige zuging. Es war fünf Uhr nachmittags. Zu dieser Zeit herrschte in dem Bahnhofsgelände mit seinen Geschäften und Restaurants ein unübersehbares Gedränge. Menschen eilten an Bourne vorbei, ohne von ihm Notiz zu nehmen. Damit hatte er gerechnet. Und er hatte aufgepaßt. Niemand war ihnen von Lenzburg hierher gefolgt. Getrennt hatten sie den Bahnhof betreten.
Marie blickte noch einmal kurz zurück, bevor sie um die Ecke bog; nur für sie bemerkbar nickte er ihr ein letztes Mal zu, ein glückliches Lächeln spielte dabei um seinen Mund. In zwei Stunden etwa würde sie von Zürich aus nach Paris fliegen.
Nachdem Marie seinem Blickfeld entschwunden war, wartete er noch einige Minuten. Er wollte sicher sein, daß niemand ihr folgte. Dann begab er sich gemächlich zum Schalter und löste eine Fahrkarte nach Frankfurt. Von dort aus wollte er eine Maschine in die französische
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