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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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ich.
    Er hob den Kopf. Er hatte getrunken. Oder etwas geraucht. Oder beides auf einmal. Wenn es nicht die ungeheure Müdigkeit war, die ihn nach den Stunden der Arbeit überfallen hatte.
    Ich sammelte die Kippen ein und warf sie weg.
    »Es ist kalt, du solltest nicht hier sitzen bleiben.«
    Er antwortete nicht.
    Er zeigte auf das Atelier, die Tür stand offen.
    »Sieh es dir an.«
    Ich ging hinein. Der Geruch überraschte mich, es stank nach Raubtier, ich hatte das Gefühl, in eine Höhle einzudringen.
    Zeichenblätter bedeckten den Boden, von der Tür aus sahen sie weiß aus, als ich näher heranging, verdunkelte sich das Weiß, und ich sah, dass sie alle mit Zeichnungen bedeckt waren. Sie lagen überall. Einige Zeichnungen waren unter anderen versteckt. Ich holte sie hervor. Sie lagen auf dem Tisch, auch auf den Stufen, manche hatte Raphaël auf Knien gezeichnet. Ein Alter auf einem Sockel, in totenähnlicher Starre. Halbnackte Seelen, in
Lumpen gehüllt, bereit zu ertrinken und doch gerettet. Wie verschont. Alles in Schwarz, Grau, wie aufgelöst. Hier und da klebte Staub an den Kohlezeichnungen, man sah die Spuren.
    Ich ging von einer Skizze zur anderen.
    Überall die gleichen zarten Schultern. Die verrenkten Glieder. Ein paar wenige Landschaften.
    Ich zählte mehr als hundert Zeichnungen.
    »Genau einhundertsiebzehn …«
    Raphaël stand an der Wand, vor der Tür, wie festgeklebt, mit leerem Blick.
    »Warum hast du so viele gemacht?«
    »Ich weiß nicht. Einfach so.«
    Er hob die Hand, sie war schwer. Es sah aus, als würden seine Augen bluten.
    »Hermann kommt sie holen, er nimmt auch die Skulpturen mit, die da sind …«
    Ich hielt ein paar Zeichnungen ins Licht. Es hatte nur wenige Tage und Nächte gebraucht, um sie zu erschaffen, aber was es darauf zu sehen gab, würde niemand ertragen können.
    »Niemand wird es dir verzeihen.«
    »Einige werden es verstehen!«
    »Ja, natürlich, einige.«
    Ringsum rauschte die seltsame Menge aus Gips, Bettler mit schwarzen Schatten und Frauen, deren hohle Bäuche sich wie rohes Fleisch ausbreiteten, gewundene Glieder, unvollkommene, unproportionierte Körper.
    Ein Gemetzel, dieses Wort kam mir in den Sinn. Ich sagte es ihm: »Das ist ein wahres Gemetzel.« Er lächelte.
    Er sortierte die Zeichnungen, die, die er Hermann geben würde; die anderen, die unerträglichen, legte er beiseite.
    Als Morgane zu uns stieß, ging sie auf sein unendlich erschöpftes Gesicht zu. Sie sah ihn an, ganz nah. Sie schien seinen
Atem zu atmen. Sie hatte Angst um ihn. Und war doch so stolz.
    Sie flüsterte ihm etwas zu, dann löste sie sich von ihm.
    Sie kam zu mir und zog mich zum Ofen, damit ich mich neben sie auf das alte Sofa setzte.
    Sie wirkte traurig. Etwas war in den letzten Tagen mit ihr passiert.
    »Was ist los mit dir?«, fragte ich.
    Sie zögerte. Sie zog die Beine unter sich, ohne zu antworten. Raphaël sortierte weiter seine Bilder.
    Morgane legte den Kopf an meine Schulter und betrachtete ihren Bruder.
    »Was läuft da zwischen Lambert und dir?«
    »Gar nichts. Wir sind uns begegnet …«
    »Das ist nicht nichts«, sagte sie.
    »Es ist nicht der richtige Zeitpunkt, später, an einem anderen Ort, vielleicht …«
    Sie sagte, dass sie gern jemandem begegnen würde, keine zufällige Begegnung, sondern eine für ihr Leben unverzichtbare.
    Eine Begegnung, die sie aus der Bahn werfen würde, ganz und gar.
    Ich erzählte ihr von dir.
    Ganz leise, ich murmelte fast.
    Worte brauchen Zeit.
    Irgendwann hob Raphaël den Kopf, er sah uns an.
    Als ich fertig erzählt hatte, nahm Morgane meine Hand und legte sie an ihr Gesicht.
    »Du musst jetzt vögeln … Und wenn du ohne Liebe vögelst, aber du musst vögeln.«
    Sie flüsterte es mir zu, in mein Ohr, ohne Raphaël aus den Augen zu lassen. Ich spürte die Wärme ihres Atems auf meiner Haut.

D raußen war gerade Niedrigwasser, das Meer ganz ruhig. Reglos der Moment, wenn der Strand nackt daliegt. Schlammgeruch stieg zwischen den Steinen auf, ein säuerlicher Gestank. Auf dem feuchten Sand waren Spuren von Pfoten. Modernde Algen.
    Als ich zu Lili ging, sah ich den Audi, er stand vor dem Haus. Das Gartentor war halb offen.
    Ich zögerte einen Moment, dann trat ich ein. Lambert stand vor dem Kamin, mit Holz in der Hand, er war gerade dabei, Feuer zu machen. Er drehte sich um. Er sagte nichts. Er lächelte nicht.
    Er legte das Holz in die Flammen und richtete sich auf. Wir sahen uns an.
    Ich war ihm böse, weil er einfach so weggefahren war,

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