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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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haben die Gefährlichkeit von Klingen. Niemand fährt dorthin.«
    »Gab es nicht doch Leute, die früher hingefahren sind?«
    Er kratzte sich das Kinn und starrte zum Leuchtturm. Die Strömungen waren schwarz, wie ausgespien von der Nacht.
    »Muss Raphaël fragen.«
    Als ich zu ihm kam, räumte er gerade das Werkzeug auf, mit gesenktem Kopf.
    »Ich frage immer alles Raphaël.«
    Ich bedrängte ihn nicht weiter.

    Ich ging an den Strand. Ein kleiner Vogel mit gelbem Schnabel pickte Sandflöhe.
    Der einsame Abdruck meiner Sohlen.
    Mein lächerlicher Schatten auf der Straße.
     
    Morgane kam mir entgegen.
    »Warum gehst du nicht weg von hier?«, fragte sie irgendwann.
    Ich zögerte.
    »Es geht mir gut hier … Die paar Quadratkilometer reichen mir.«
    Ich log. Sie reichten mir nicht. Sie reichten mir nicht mehr.
    »Und du?«
    »Ich gehe niemals ohne Raphaël.«
    »Der Mann, mit dem du auf dem Fest warst, wer war das?«
    »Er kommt aus Beaumont. Da läuft nichts.«
    Wir liefen am Kai zurück. Das Meer stieg. Wir hörten das Wasser plätschern.
    »Der Typ, für den ich arbeite, sagt, wenn ich will, kann ich mir irgendwann ein Moped kaufen und in seiner Boutique in Cherbourg Kleider verkaufen.«
    »Hast du einen Führerschein?«
    »Nein, aber ich kann fahren.«
    Ich sah sie an. Der Wind blies ihr das Haar ins Gesicht. Eine kleine Speichelblase hing an ihrer Lippe. Sie war schön. Ich war überhaupt nicht eifersüchtig. Unter anderen Umständen wäre mir ihre Jugend sicher unerträglich gewesen.
    »Warum siehst du mich so an?«
    »Du bist schön.«
    »Ich werde alt«, sagte sie und verzog das Gesicht.
    »Von wegen!«

    »Ich werd dreißig, kannst du dir das vorstellen?«
    Darüber musste ich lachen. Sie sah an sich herunter.
    »Ich müsste trotzdem ein bisschen abnehmen … Meinst du nicht?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Ich auch nicht, eben, und solange ich es nicht weiß …«
    »Es wird regnen«, sagte ich.
    Sie schaute zum Leuchtturm. Schließlich gingen wir durch den Garten ins Haus.
    Sie holte die Ratte aus der Jackentasche und setzte sie aufs Sofa.
    »Es wird nicht regnen.«
    »Aber der Himmel ist so grau.«
    »Grau heißt nicht Regen.«
    Sie setzte sich an den Tisch, kontrollierte ihre letzte Krone und verbesserte hier und da noch ein paar Stellen. Sie hatte keine Lust zu arbeiten. Sie sagte es: »Ich hab die Nase voll von dem Job!«
    Sie stellte sich ans Fenster.
    Die Ratte kletterte auf den Tisch und legte sich in die Schachtel. Ich nahm eine Perle heraus. Die Ratte bleckte die Zähne.
    »Jetzt regnet’s«, sagte Morgane.
    Sie drehte sich zu mir um.
    »Du warst gestern mit ihm zusammen …«
    »Ja.«
    Sie griff nach ihrer Krone.
    »Was habt ihr gemacht?«
    »Nichts.«
    Sie biss einen Faden durch, fädelte mehrere Perlen hintereinander auf und verknotete die Fäden. Haarsträhnen hingen ihr ins Gesicht. Sie schob sie nach hinten, aber die Strähnen waren
widerspenstig, sie fielen wieder nach vorn. Ich sah sie gern an, ihre Hände in den Perlen.
    Dann legte sie das Diadem weg, senkte die Augen und betrachtete ihre Hände. Ihre Nägel mit der roten Haut.
    »Manchmal sag ich mir, dass ich hier weg muss.«
    Ihre Augen füllten sich mit Tränen, waren einen Moment überschwemmt, dann liefen die Tränen. Sie wischte sie mit dem Ärmel weg. Sie waren ganz plötzlich gekommen. Auch auf dem Tisch waren Tränen.
    Sie wollte alles mit einem Lächeln auslöschen.
    »Ohne ihn kann ich überhaupt nichts machen.«
    Was konnte ich ihr antworten? Ich wollte die Hand auf ihre legen, aber sie zog sie weg. Sie wollte nicht, dass ich sie berührte. Die meisten glauben, dass man ohne den anderen nichts mehr machen kann. Und dann geht der andere, und man entdeckt, dass man eine Menge Sachen machen kann, die man sich nicht vorgestellt hätte. Andere Sachen, aber es wird nie mehr so sein wie vorher. Ich versuchte, ihr das alles zu erklären – dass man trotzdem weitermachen konnte.
    Sie schniefte.
    Ich sprach von dir.
    Die Erinnerung an dich ist wie eine Nadel, die tief in meinem Fleisch steckt. Manchmal vergesse ich dich. Und dann genügt eine Bewegung, eine falsche Regung, und der Schmerz kommt zurück, heftig.
    Manchmal ist der Schmerz auch nicht da, und dann suche ich ihn. Ich finde ihn, ich wecke dich auf.
    Der vertraute Schmerz.
    Man tröstet sich auch mit Tränen.
    Morgane trocknete sich die Augen. Sie lächelte mühsam.
    Plötzlich ging die Tür auf, es war die kleine Bachstelze. Sie hatte Regen abbekommen. Im Flur hatte sie

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