Die Brandungswelle
Bertrand Perack , 19. Oktober 1967 . Es gab auch eine kleine Tafel: Für Paul, verschollen im Meer. Darunter ein Foto in einem Medaillon unter Glas. Dieses Medaillon hatte Lambert aus der Tasche geholt. Das Foto zeigte ein kleines Kind, kaum zwei Jahre alt, es trug ein gestreiftes Poloshirt, auf das drei kleine Boote gestickt waren. Das Kind stand vor einem Haus, hinter ihm erkannte
man den Haken eines Fensterladens. Es starrte ins Objektiv. Ein Schatten zeichnete sich auf dem Kies ab, wohl von der Person, die das Foto gemacht hatte.
D ie letzten Bretter, die das Meer brachte, waren dick und vollgesogen mit Wasser, niemand wollte sie mehr. Sie blieben am Strand liegen.
Die Polizisten standen noch am Hafen. Ein Journalist war extra aus Saint-Lô gekommen. Er filmte Lili. Wir sahen sie abends in den Regionalnachrichten. Sie hatte ihre Schürze abgebunden, hielt sie aber noch in der Hand, zusammengerollt wie ein altes Tuch. Sie sah direkt in die Kamera und antwortete auf die Fragen.
Als der Journalist von den Männern sprach, die die Bretter mitgenommen hatten, verdüsterte sich ihr Gesicht.
»Das Meer gibt, für die vielen Male, die es nimmt!«, sagte sie.
Der Journalist ignorierte ihre Antwort.
»Aber diese Bretter gehören doch schließlich jemandem?«
»Sie gehören dem, der sie findet.«
»Nehmen, was man findet, heißt manchmal stehlen.«
Als Lili das hörte, sah sie nicht mehr in die Kamera, sondern blickte ihm direkt in die Augen.
»Was wollen Sie damit unterstellen?«
Der Journalist spürte die Spannung.
»Was im Meer ist, gehört dem Meer«, erklärte Lili. »Und was dem Meer gehört, gehört den Menschen!«
Sie warf ihre Schürze auf den Tresen, dann einen letzten Blick in die Kamera.
»Man wird den Leuten doch wohl nicht wegen einem Stapel Bretter Schwierigkeiten machen!«
Sie ließ den Journalisten stehen und ging aus dem Bild. Ein paar Sekunden lang sah man auf dem Bildschirm nur die Flaschen, den Spiegel und die kleine, mit Weihwasser gefüllte blaue Jungfrau.
Gleich danach zeigten sie den Leuchtturm mit den treibenden Brettern, dazu leise Musik aus dem Off, es war unverständlich, warum sie nicht das echte Wellenrauschen gelassen hatten.
Ich ging am Meer entlang zur Steilküste. Alles war voll dickem Schlick, einer Mischung aus nasser Erde und weichen Pflanzen. Der Sturm hatte die Algen in Bündeln vom Meeresboden losgerissen, angeschwemmt, zerfetzt und an den Strand gespült. Es würde Tage dauern, bis das alles trocknete.
Ich hatte es eilig. Es war der erste Tag nach dem Sturm, und ich wollte die Nester sehen, ob sie gehalten hatten und wie sich die Vögel verhielten. Es war ein wilder Ort, sicher einer der schönsten der Küste. Im Sommer, wenn die Erika blühte, würde die Heide die Farben Irlands annehmen. Ich hatte hier noch nie einen Sommer erlebt. An manchen Tagen, hieß es, könne man auf den Wiesen über dem Strand von Écalgrain Wildpferde sehen. Morgane meinte, es sei ihr Strand, dieser Strand gehöre ihr. Wenn sie Wanderer sah, warf sie von den Felsen mit Kies nach ihnen.
Ich folgte dem Weg weiter in Richtung Nez de Jobourg. Große Vogelkolonien nisteten hier in aller Freiheit. Der Zutritt zu diesem Uferabschnitt war verboten. Es gab Absperrungen und Schilder. Aber die Wanderer kletterten unter den Zäunen durch.
In sechs Monaten hatte ich schon mehrere verjagt.
Die Nester hatten gehalten, bis auf eins, das eines jungen Kormoranpärchens. Das Nest war schlecht und ohne Geduld gebaut worden, der Wind hatte es fortgerissen, mitsamt den drei Jungen, die darin saßen.
Ich setzte mich ganz oben auf einen großen Felsen über dem Meer.
Ein Webervogel postierte sich ein paar Meter von mir entfernt. Ich zeichnete ihn, hielt seine Farben fest. Dann legte ich mich mit dem Rücken auf den Felsen und schloss die Augen. Ich hatte zu lange in die Sonne gesehen. Farbflecken tanzten hinter meinen Lidern wie kleine Feuerseepferdchen.
A cht Jahre lebte Raphaël schon hier, Morgane etwas kürzer. Ihre Eltern wohnten in der Gegend von Rennes. Sie hatten einen Laden. Morgane hatte mir erzählt, dass sie Taschen und Schulmappen verkauften. Sie sahen sich ab und zu. Nicht oft.
Im Atelier lösten sich die Wände, die Ziegel auf. Das kam vom Salz. Es stieg höher. Es zerfraß den Stein, wie es die Bäume, die Knochen in den Körpern zerfrisst.
Ich machte die Tür auf.
»Darf ich?«
Raphaël arbeitete gerade an einer Skulptur. Eine Frau mit langem Haar aus Stein, ein Madonnengesicht.
Weitere Kostenlose Bücher