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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Die Blässe des Gipses legte eine geheime Stille über ihr Gesicht. Seit Wochen arbeitete er bereits daran. Jede seiner Skulpturen hatte eine Geschichte. Diese hier hatte mich berührt.
    Begonnen hatte er mit den Worten: »Hör gut zu, denn ich werde nur einmal darüber sprechen.«
    Die Geschichte stammte aus der Zeit, als er in Kalkutta lebte. Eines Morgens war er aus dem Haus gegangen, auf der Straße hatte er eine Frau getroffen, eine sehr schöne Frau. In ihren Armen trug sie ein totes Kind. Ein Baby, ein paar Tage alt, es war in Lumpen gehüllt. Sie sang und wiegte es, wie sie es mit einem lebenden Kind getan hätte. Und sie bettelte. Als sie Raphaël sah,
entblößte sie eine Brust, ging auf ihn zu und streckte eine Hand aus. Sie lachte. Sie lachte so laut, wie sie schön war. Raphaël gab ihr ein paar Münzen, woraufhin sie in ein Geschäft ging und mit Milch wieder herauskam. Sie setzte sich auf einen Bordstein und gab dem Kind die Milch zu trinken. Ein unerträglicher Anblick. Am Abend, als sie schlief, nahmen ihr die Frauen das Kind weg. Als sie daran zogen, löste sich ein Arm vom Körper.
    Ich trat einen Schritt zurück und sah die ausgemergelte Gestalt dieser Frau an, die zu lachen schien und dennoch zitterte.
    Was wohl aus ihr geworden ist?
    Raphaël erzählte, dass er sie in den folgenden Tagen hatte durch die Straßen irren sehen, auf der Suche nach ihrem Kind. Sie versuchte immer wieder, eines zu stehlen, aber die Frauen aus dem Viertel schlugen sie. Lange war sie mit einem Lumpen an der Brust herumgelaufen, wie eine von Milch durchtränkte Puppe. Eines Tages hatte er sie vergeblich gesucht.
    Ich wandte mich ab. Ich sah Raphaëls Hände an, die Gipssäcke an den Wänden. Diese geheimnisvolle Arbeit. Man sagt, dass eine Skulptur schon im Inneren des Marmorblocks existiere, den der Bildhauer bearbeitet. Welche werdenden Skulpturen waren in all diesen Säcken gefangen?
    »Der Blick dieser Frau verfolgt mich …«
    Er sagte es mit dumpfer Stimme.
    Ich hörte das dicke Leinen seines Hemdes, als es die Tischplatte berührte. Das Geräusch eines Zündholzes an der Reibefläche.
    Er hat mir diese Geschichte nie wieder erzählt. Auch später nicht, als er Die Herumirrende aus den Slums in Bronze goss.
     
    Die Luft war klar, dann stieg plötzlich Nebel auf, dicke Schwaden. Kompakt. Man konnte weder die Insel Aurigny erkennen noch etwas vom Dorf La Roche. Sogar das Semaphor war
verschwunden. Fort auch die Steine am Strand, die Bäume am Wegrand. Alles war in Stille getaucht. Die Vögel hatten sich zusammengeschart.
    Die Lichter des Leuchtturms blinkten, ein langer blauer Strahl, der den Nebel durchdrang und abwechselnd Ufer, Felsen und Meer anstrahlte.
    Ich ging zur Griffue zurück.
    Raphaël hatte den roten Stein vor seine Tür gelegt. Einen Stein umwickelt mit einer dicken Hanfschnur. Wenn der Stein da war, durfte niemand sein Atelier betreten. Nicht einmal Morgane.
    Raphaël blieb manchmal tagelang eingeschlossen, ohne jemanden zu sehen.

D er Ranunkelstrauß stand auf dem Tresen. In einer Vase. Ich sah ihn beim Hereinkommen. Ich wusste, dass Max die Angewohnheit hatte, Blumen von den Gräbern zu nehmen, aber niemals ganze Sträuße. Die Ranunkeln waren schön, sie hatten ihn wohl dazu verlockt. Noch mehr als sonst. Und dann ein Grab, das keiner je aufsuchte. Lili hatte bestimmt geschimpft, sie schimpfte immer, wenn er ihr Blumen brachte, aber sie nahm sie trotzdem.
    Wenn Max Rosen fand, entfernte er die Dornen und schenkte sie Morgane. Morgane wollte seine Blumen nicht. Sie sah sie nicht mal an. Max legte sie stets in den Flur, vor ihre Tür. Dort blieben die Rosen einen Tag oder zwei. Sie welkten. Mit der Zeit faulten sie oder vertrockneten, und der Wind trug sie fort.
     
    Lamberts Audi stand etwas weiter unten in der Straße. Allen war das Auto aufgefallen und auch, dass die Fensterläden des Hauses geöffnet waren. Aber niemand sprach darüber, höchstens hinter vorgehaltener Hand.
    Morgane rauchte, die Ellbogen auf der Theke. Die Hose auf der Hüfte, die Ratte auf der Schulter. Neben ihr zwei Straßenfeger in signalgrünen Latzhosen. Die Mutter döste, tief in ihrem Sessel versunken, die Hände über dem Bauch gefaltet. Ihr Kinn
war im Hals verschwunden. Sie trug Wollpantoffeln und sehr dicke Strümpfe. Man hörte sie mit den Zähnen knirschen. Das kam wohl von den Medikamenten.
    Im Saal roch es nach kaltem Tabak. Lili schimpfte, leerte die Aschenbecher, aber der Geruch war in die Mauern

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