Die Brandungswelle
Bambi-Kassette ein. Die Mutter wartete wieder, die Augen auf die Türklinke gerichtet. Als Lili an ihr vorbeiging, packte sie sie am Ärmel.
»Der Alte …«
»Was ist mit ihm?«
»Es ist seine Zeit.«
»Na und?«
»Kommt er nicht?«
»Nein, er kommt nicht.«
Sie ging zur Bar zurück.
»Als hätte er ihr nicht lang genug das Leben schwer gemacht.«
Die Mutter hielt ihren Bauch, sie schaute nicht zum Fernseher.
»Ich versteh’s nicht …«, sagte Lili, »ich versteh’s nicht«, wiederholte sie, dann drehte sie sich zu mir um.
»Schon als sie schwanger war, hat er sie betrogen!«
Die Mutter fing wieder zu jammern an. Das war zu viel für Lili. Sie ging zu ihr, packte ihr Kinn, drückte grob ihren Mund auf und nahm das Gebiss raus. Eine schroffe Bewegung. Ich hörte das Klappern der Zähne.
Die Mutter sog ihren Mund ein.
Ohne Gebiss war die ganze untere Hälfte des Gesichts nur noch ein Kinn ohne Lippen, an dem ein paar lange Haare wuchsen, die merkwürdig schwarz waren.
»Ich hör sie noch lieber an der Zunge saugen, als Schwachsinn erzählen!«
D ie Mutter hatte Recht, es war Théos Zeit, und er war nicht gekommen.
Er war gestürzt, als er den Weg hinaufgegangen war. Ich erfuhr es kurz darauf. Das Gras war nass gewesen, er war ausgerutscht. Der Briefträger hatte ihn gefunden. Er hatte ihm aufgeholfen, so gut er konnte. Théo hatte eine schlimme Wunde am Bein. Der Arzt war gekommen, aber Théo hatte sich geweigert, ins Krankenhaus zu gehen.
»Wer kümmert sich um meine Katzen, wenn ich nicht da bin?«
»Wenn ich Sie im Dorf rumlaufen sehe, lasse ich Ihnen keine Wahl«, hatte der Arzt geantwortet.
Keine Wahl, das hieß Cherbourg.
Und Cherbourg bedeutete für Théo den Tod.
Ich besuchte ihn am darauffolgenden Tag, am späten Nachmittag. Er war ganz allein und saß ziemlich niedergeschlagen am Tisch. Die Krankenschwester war da gewesen. Sie würde jeden Morgen wiederkommen. Der Tisch war voll mit Medikamentenschachteln und einem Fläschchen Äther. Er schob alles weg.
Er wollte nicht von seinem Sturz sprechen, er zeigte mir lieber die Katze, die Tränen wie Klebstoff weinte.
»Haben Sie gesehen, ihre Lider sind sauberer, sie stößt auch nicht mehr überall an wie vorher.«
Er erzählte mir, dass Max ihm Fisch gebracht hatte. Und Brot.
Lili hatte mir in einer luftdicht verschlossenen Dose Essen für ihn mitgegeben. Ich stellte die Dose auf den Tisch. Er sah nach, was drin war, verzog das Gesicht und schob sie angewidert weg.
»Sie sind ungerecht, Théo!«
Er lachte kurz.
»Was wissen Sie denn schon? Glauben Sie etwa, sie macht das für mich?«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie will nur nicht, dass man sagt, sie lässt ihren Vater verhungern.«
Er senkte die Augen, um meinem Blick zu entgehen. Dann wurde er ein bisschen rot und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. So nervös war er. Es war nervtötend. Mir war nicht klar, ob ihm bewusst war, dass er das tat.
D er Gasthof von Jobourg befand sich ganz oben auf dem Felsen. Allein, etwas gedrungen, überragte er auf seinem riesigen Vorsprung das Meer. Ich sah ihn gern aus der Ferne, ein großer Bär, der auf dem Gipfel lauerte.
Ich war oft hergekommen, bei Kälte, bei Schnee, sogar im Dunkeln. In den ersten Wochen, als ich nicht schlafen konnte. Am Anfang machte ich das. Ich lief. Ich sprach mit dir. Wenn mir danach war, brüllte ich. Das Meer ist keine Wand, es gibt kein Echo zurück. Inzwischen habe ich aufgehört zu brüllen.
Dieser Gasthof war meine Zuflucht, die ich nach Stunden im Wind erreichte. Am Ende säumte eine hübsche Mauer aus flachen Steinen den Weg. Dort war die Erde weich, das Gras kurz. Der Gasthof war ganz nah. Ein Weg führte dahinter weiter zur Pointe des Becquets, zum Bec de l’Âne. Ich hätte nach Süden weitergehen können, es hieß, die Küste bei Biville sei sehr schön. Der Strand. Die Dünen. Ich hätte auch bis Carteret gehen können.
Die Dünen ließen mich kalt.
Ich wollte nicht weitergehen.
Diese Gegend war dir ähnlich. Mich davon abzuwenden, hätte bedeutet, dich nochmal zu verlieren. Ich war wie besessen von deinem Körper gewesen. Ich kannte seine Umrisse, seine Unvollkommenheiten.
Ich kannte seine ganze Kraft. Jeden Abend ließ ich dein Gesicht, die Bilder, die ganze Geschichte in einer Endlosschleife vor mir ablaufen. Dein Lächeln. Deine Lippen. Deine Augen. Deine Hände. Deine verfluchten Hände, viel größer als meine. Du hattest gesagt, dass wir uns an einem ungeraden Tag trennen
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