Die Brandungswelle
vertraut sich Ihnen an?«
»Nicht mir, sondern Lili. Ich habe gehört, wie er es ihr erzählt hat.«
»Er hat mit Lili gesprochen?«
Théo lächelte merkwürdig.
Plötzlich sah ich mich, wie mich ein Vorübergehender durch das Fenster sehen würde, an einem Tisch, unter einer Lampe mit einem Alten schwatzend.
»Ich will nicht mehr davon sprechen«, sagte ich und schüttelte den Kopf.
»Wovor haben Sie Angst?«
»Ich habe keine Angst.«
Ich log. Ich hatte Angst vor dem, wozu ich allmählich wurde. Eine Frau ohne Liebe. Ich hätte gern etwas über ihn und Nan gewusst. Gewusst, wie sehr sie sich geliebt hatten, was sie gewagt hatten und warum sie aufgehört hatten, etwas zu wagen.
»Erzählen Sie mir von ihr«, sagte ich plötzlich.
Er erstarrte.
Ich hatte von ihr gesagt. Ich hatte nicht Nan gesagt, und trotzdem wusste er, von wem ich sprach.
»Was Sie da von mir verlangen …«
Er schwieg einen Moment.
Wenn Théo der Vater gewesen wäre, den ich nie hatte, ich glaube, ich hätte ihn ohne Einschränkung geliebt.
Er legte das Kätzchen auf den Sessel neben sich, stützte sich mit der Hand auf den Tisch und stand auf. Dann verschwand er im Nebenzimmer. Ich wartete darauf, dass er wiederkam, aber er kam nicht wieder.
D er Abend brach herein. Hinter den Fenstern gingen die Lichter an, drangen gelb durch die Spitzenvorhänge.
Ab fünf Uhr wurden die Küchentische zum Ort der Vertraulichkeit. Die Hände um die Tassen. Die Köpfe geneigt. Dicht beieinander. Herumstehende Gläser, Geschirrtücher über dem Ofen.
Der Tag ging zur Neige. Die Nacht war noch nicht angebrochen. Es war jene schreckliche Stunde, in der die Schatten zurückkommen und die Hunde anfangen zu heulen.
Ein erster Lichtstrahl glitt vom Leuchtturm über die Wasseroberfläche, strich über den Hafen und den Liegeplatz der Boote. Das Licht strahlte auch die Griffue an, dann war alles wieder in Dunkel getaucht.
Ich traf Gestalten, Menschen, die zu Schatten geworden waren, manchmal so einsam, dass sie an eine beliebige Tür klopften, um sich einem Blick zu nähern oder einem Feuer. Diejenigen, bei denen niemand vorbeikam, machten sich zum Bistro auf. Dort zogen sich die Gespräche in die Länge. Der Vorhang war etwas zurückgeschoben. Ich sah niemanden, ahnte nur die Schatten. Und wenn sie keine Lust mehr hatten, über sich selbst zu sprechen, konnten sie immer noch über die anderen reden, die Lebenden und die Toten.
M organe hatte Arbeit gefunden – Kronen für ein Geschäft in Cherbourg basteln. Sie fädelte nach einer Vorlage Perlen auf ein Drahtgestell. Das fertige Diadem wurde als Brautkrone verkauft. Sie wurde nicht gut bezahlt, aber sie sagte, mit dem, was sie im Gasthof verdiene, käme sie klar.
Sie arbeitete am Küchentisch. Als ich den Raum betrat, war Max gerade dabei, sie anzusehen. Er durfte die Perlen nicht anfassen und auch nicht sabbern, sich kratzen oder mit den Zähnen knirschen. Sonst wies ihm Morgane die Tür. Ohne etwas zu sagen. Nur mit den Augen. Das war schon öfter vorgekommen. Er wusste, dass es wieder vorkommen konnte, deshalb saß er reglos auf seinem Stuhl, die Hände zwischen den Schenkeln.
Selbst wenn er bewegungslos dasaß, hatte sie bald genug von ihm. Sie sagte dann: »Es reicht, Tölpel«, und Max ging.
»Musst du nicht zur Sau?«, fragte ich, als ich ihn dort antraf.
Er schüttelte den Kopf. Ich setzte mich zu ihnen.
Eine Postkarte lag auf dem Tisch, eine Ansicht von Rom, das Kolosseum.
»Meine Eltern, du kannst sie lesen.«
Ein paar Worte standen auf der Rückseite:
Grüße aus Rom. Letzte Nacht hat es ein bisschen geregnet, aber gestern haben wir den Petersdom besichtigt, und heute Nachmittag gehen wir zum Forum. Montag kommen wir zurück. Küsschen, Papa und Mama.
Morgane zuckte die Schultern.
»Sie reisen viel.«
Ich las die Karte nochmal. Es waren seltsam distanzierte Worte, ziemlich brutal, fand ich. Morgane spürte es wohl. Sie fädelte ihre Perlen auf und sah mich aus dem Augenwinkel an.
»Ab und zu besuchen wir sie. Dann fahren wir früh los und kommen abends zurück. Das letzte Mal haben wir sie Weihnachten gesehen. Aber wir sind nicht lange geblieben.«
Sie fädelte mehrere Perlen hintereinander auf.
»Nächstes Mal fahren wir im Juli hin, wenn ich dreißig werde.«
Raphaël kam mit ungekämmtem Haar aus seinem Zimmer, er schimpfte, weil wir ihn geweckt hatten. Dann streichelte er ihre Schulter – eine unendlich zärtliche Geste, die mich an meine eigene Einsamkeit erinnerte,
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