Die Brandungswelle
an diesen unendlichen Abgrund, dein Fehlen. Raphaël entdeckte die Postkarte, nahm sie, las sie und legte sie dann zurück, ohne etwas dazu zu sagen.
Morgane lehnte den Kopf an ihren Bruder. Ich weiß nicht, wie die beiden hier gelandet waren. Ich weiß, dass Raphaël zuerst hier Fuß gefasst hatte und Morgane ihm gefolgt war. Sie waren Geschwister und sahen sich an wie Liebende.
Dieses Bedürfnis, sich nah zu sein, sich zu berühren. Zwischen ihnen gab es immer Gesten, die an die Grenze der Liebkosung reichten, ihre Berührungen hatten etwas unendlich Sinnliches. Ihnen zuzusehen, verwirrte mich.
Raphaël löste sich von seiner Schwester. Er machte ein Bier auf und trank es im Stehen, an die Spüle gelehnt.
»Bist du immer noch da?«, fragte er Max.
Max lächelte. Die Zeit, in der er Morgane ansehen durfte, schien ihn jedweder Zeitlichkeit zu entheben.
»Die Morganezeit ist die provisorische Annullierung jeder gegensätzlichen Zeit«, sagte er.
Morgane zuckte die Schultern.
Max schielte zum Wörterbuch, das ihn ebenso sehr zum Träumen brachte wie Morgane, diese ganzen auf so kleinem Raum eingeschlossenen Wörter. Wenn Morgane ihn verjagte, nahm er das Wörterbuch an sich und verzog sich in den Flur.
Das tat er.
Bis ihn Morgane wieder verjagte.
Das Fenster zum Garten stand weit offen. Die Sonne kam herein und mit ihr ein winziger Schmetterling mit blauen Flügeln.
»Glaubst du, dass sie vögeln?«, fragte Max, während er das im Licht fliegende Insekt betrachtete.
Raphaël drehte sich um.
»Von wem sprichst du?«
»Die Schmetterlinge.«
»Warum sollten sie nicht vögeln?«
»Man sieht Katzen, Hunde, aber Schmetterlinge sieht man nie.«
»… machen’s nachts.«
Max schüttelte den Kopf.
»Nachts sind sie in der friedlichen Eingeschlafenheit aller Geschöpfe.«
»Vielleicht vögeln sie nicht …«, sagte Raphaël.
»Alle …«
»Die Blumen nicht, Max.«
»Nicht alle«, sagte ich.
Das ließ sie schweigen, ein paar Sekunden.
»Und die Fische, wie machen es die Fische?«, fragte Morgane und tauchte wieder die Hand in die Perlen.
Raphaël antwortete.
»Es gibt Arten, wo das Männchen über den Eiern abspritzt, nachdem sie gelegt worden sind.«
»Hast du Biologie studiert?«
»Eine Zeitlang.«
»Wann war das?«
»Früher, als ich in Demi Moore verliebt war, lange her … Ich hatte Zeitschriften abonniert.«
»Was hat das damit zu tun!«
»Nichts, aber damals las ich viel.«
Max hörte ihnen zu. Er lächelte. Vögeln konnte er. Ein Bursche aus dem Dorf nahm ihn jeden Donnerstag mit zu den Mädchen nach Cherbourg.
Ich hatte es gekonnt.
Jetzt blieb mir nur die Leere, dieser brennende Riss des Geschlechts bis tief in den Bauch. In manchen Nächten wachte ich auf und hatte das Gefühl, von dieser Leere verschluckt zu werden. Ich landete auf dem Boden, ohne Laken, wie so oft.
An jenem Tag, in dem langen Flur, als sie von dir sprachen, hast du dich von ihnen abgewandt. Du hast mich angesehen und diese Geste gemacht, die du immer machtest, wenn wir uns trennten. Du hast die Hände vor dir verschränkt. Wir bleiben zusammen, wolltest du damit ausdrücken, ich behalte dich, ich behalte dich bei mir. Du hast die Kraft gefunden zu lächeln. Und dann, ja, dann haben sie dich mitgenommen.
Aber vorher hast du gelächelt.
Die Türen haben sich geschlossen. Der Flur hatte nach Äther gerochen.
Max kaute an seinen Fingernägeln.
»Sie müssen vögeln«, sagte er.
Er sah uns alle drei nacheinander an.
»Aber ich frage mich, wie das Weibchen mit seinen Flügeln die richtige Positionierung vornimmt.«
»Was willst du damit sagen?«
Er spuckte ein kleines Stück Fingernagel aus, auf dem er herumgekaut hatte.
»Lili sagt, wenn du den Staub auf den Flügeln des Schmetterlings berührst, stirbt er … Und wenn der Schmetterling hier mit den Flügeln schlägt, kann etwas sehr Schlimmes am anderen Ende der Welt passieren. Etwas so Schlimmes wie ein Orkan.«
»Du zerbrichst dir über Unsinn den Kopf, Max! Außerdem kann uns das Gevögel der Schmetterlinge völlig egal sein, wir sind eine andere Art.«
»Lili sagt …«
»Es ist uns schnurz, was Lili sagt.«
Max senkte den Kopf.
Morgane lächelte.
»Du solltest ein bisschen arbeiten. Wenn du arbeiten würdest, würdest du nicht so viele Fragen stellen«, sagte Raphaël.
»Ich arbeite doch.«
»Du arbeitest?«
»Die Sau, das Boot … Und ich mache Brillanz auf den Kirchenfenstern.«
Er kratzte sich heftig am Kopf.
»Ich bin in
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