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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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geschlossen, aber manchmal versteckte sie sich, wenn sie nicht gesehen werden wollte. Ich kratzte mit den Fingern an der Mauer entlang und nahm dabei etwas Erde mit. Meine Fingernägel waren schwarz, meine Lippen trocken. Die Haut vom Wind wie Pappe.
    Ich wartete eine Weile. Nan zeigte sich nicht. Schließlich ging ich zur Griffue zurück.

S eit zwei Tagen hatte sich Raphaël im Atelier eingeschlossen. Von meinem Zimmer aus hörte ich ihn herumlaufen. Durch die Fußbodenspalten sah ich das Licht.
    Morgane sagte, er habe sich eingeschlossen, weil er seine Serie von Zeichnungen angefangen habe.
    Ohne ihn langweilte sie sich. Sie kam die Treppe hoch und klopfte an meine Tür.
    »Wenn ich mit ihm spreche, antwortet er nicht«, sagte sie. »Hast du Lust, rauszugehen und ein Stück zu laufen?«
    Laufen wollte ich nicht. Auch nicht ein Stück.
    »Ich war den ganzen Tag draußen«, antwortete ich.
    Sie ließ sich aufs Bett fallen.
    »Was hast du gemacht?«
    Ich erzählte ihr von der Zuflucht . Ich fragte sie, ob sie etwas über diesen Ort wisse.
    Sie wusste nichts.
    Die Hände hinter dem Kopf verschränkt und auf das Kissen gestützt, fragte sie:
    »Tun dir die Bälger so leid?«
    »Nein, aber bei Lili hängt ein Foto, auf dem eines der Waisen zu sehen ist.«
    Es war ihr egal.

    »Und wann war das?«
    »Lange her, vor ungefähr vierzig Jahren.«
    »Da gab’s mich noch nicht … Warum interessiert dich das?«
    Ich überlegte, ob ich ihr erzählen sollte, dass es Lili offensichtlich unangenehm gewesen war, sich an den Jungen zu erinnern, und dass ich gern verstehen würde weshalb. Sie strich ihre Haare nach hinten.
    »Ich möchte mit Männern schlafen. Mit Männern schlafen und bezahlt werden. Ich hab eine Agentur in Cherbourg ausfindig gemacht.«
    Ich sah sie an.
    »Du willst als Nutte arbeiten?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Nein … Per Telefon, ohne Körperkontakt. Dafür müssten wir aber ein Telefon anschließen, und Raphaël weigert sich.«
    Sie sah mich eindringlich an.
    »Könntest du das nicht machen?«
    »Ein Telefon anschließen lassen, damit du Telefonsex machen kannst?«
    Ich dachte, es sei ein Witz.
    Sie gab nicht auf.
    »Das ist auch nicht schwerer, als im Wind stehen und Vögel zählen!«
    Sie rollte sich auf die Seite. Und dann auf den Bauch, stützte den Kopf zwischen die Hände.
    »Du lässt das Telefon anschließen, wir sagen Raphaël nichts, und du bekommst Prozente.«
    Zuhälterin! – das fiel mir sofort ein.
    »Wir könnten zu zweit arbeiten. Das ist doch alles kein echter Sex!«
    Ich war mir nicht mal sicher, ob ich noch echten Sex haben konnte.

    »Na, bist du einverstanden?«
    »Nein.«
    Sie war sauer, stand auf, ging zur Tür und blieb, die Hand auf der Klinke, stehen.
    »Spießerin! Dann gebe ich eben die Nummer der Zelle an und mache es von dort. Alle werden mich sehen. Und wenn ich die entsprechenden Bewegungen mache, wird es euch peinlich sein.«

I ch hatte viel zu tun, ich musste meine Zeichnungen fertigstellen und ein ganzes Dossier mit Schlussfolgerungen über den Rückgang der Zugvögel im Gebiet von La Hague verfassen.
    Ich verbrachte den ganzen Tag damit.
    Ich dachte daran wegzugehen. Ich hätte nach Saint-Malo fahren können, Saint-Malo war nicht so weit, und es hieß, die Stadtmauern seien sehr schön.
    Am Abend ging ich ins Dorf. Ich sah die Familien im Lampenlicht beisammensitzen. Die Tische gedeckt, die Teller verziert mit kleinen Blümchen und orangem Rand, übervoll mit Essen. Überall liefen die Fernseher. Schatten. Als ich am Stall entlangging, hörte ich die Ketten rasseln. Ich durchquerte das Dorf.
    Nach der letzten Laterne begann die Nacht. An dieser Grenze zwischen Schatten und Licht traf ich Lambert. Sein Gesicht war kaum zu erkennen. Von weitem sah er aus wie ein einsamer Wolf. Ein Einzelgänger, ohne Rudel.
    Wir sahen uns an. Ich fragte mich, was er dort tat.
    »Was für eine schöne Nacht.«
    Es war eine zu dunkle Nacht.
    Ich sah sein Gesicht nicht.
    Wir trafen uns dort, als hätten wir uns verabredet. Als hätten
wir ausgemacht: bei Einbruch der Nacht gleich hinter der letzten Laterne. Kein präziser Ort, dieser alte Pfahl am Straßenrand, um aufeinander zu warten.
    Wir liefen gemeinsam ein paar Schritte, dann ging er weiter, aber ich konnte nicht. Wegen der Nacht. Dieses Schwarz glich einem Abgrund. Er verschwand zwischen den Bäumen, wie von der Straße verschluckt.
    Ich hörte seine Stimme.
    »Noch zehn Schritte, dann sehen Sie das Licht …«
    Ich wusste

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