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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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umgedreht und gefragt:
    »Kommen Sie nicht mit?«
    Niemand badete jetzt dort. Nur im Sommer ein paar Stammgäste.
    Sein Körper, vom Meer aufgenommen, verschmolz mit der Nacht. Er verschwand, und ich wartete, die Arme um die Knie geschlungen, dass er zurückkam. Unter meinen Fingern der Kies.
    Ich sah die Sterne an.
    Er schwamm weit hinaus. Das Wasser war kalt hier, viel kälter als anderswo.
    Hatte er Théo besucht? Er hatte mir gesagt, dass er mit ihm sprechen wollte, aber hatte er es getan? Warum zögerte er so?
    Als er zu mir heraufkam, hatte er das Hemd zusammengerollt in der Hand. Den schwarzen Pullover trug er direkt auf der Haut.
    »Sie sind weit rausgeschwommen …«
    Ich spürte seinen Blick durch die Nacht.

     
    Im Auto drehte er die Heizung voll auf. Seine Haare waren nass.
    »Ich hatte Angst, Sie würden nicht zurückkommen.«
    Er spreizte die Hand, dann schloss er sie. Immer wieder.
    »Ich musste schwimmen …«
    Er schaltete die Scheinwerfer ein und blickte aufs Meer, auf diesen Teil der angestrahlten Nacht. Dann drehte er den Kopf zur Seite und sah mich an, wie um das Meer nicht mehr zu sehen.
     
    Er war bei der Irin in La Rogue untergekommen. Als wir dort ankamen, brannte unter dem Torbogen eine kleine Laterne.
    Die Tür stand offen. Ich folgte ihm durch einen engen, mit rotem Samt tapezierten Flur. Ganz am Ende war ein großes Zimmer voller Sessel. Schwere Vorhänge hingen vor den Fenstern.
    Eine Frau lag auf einem Sofa zwischen dicken Samtkissen und sah sich eine amerikanische Krankenhausserie im Fernsehen an. Auf dem Tisch standen ein Glas und eine Tasche aus weißem Kunstleder. Es stank nach Parfüm.
    »Keine Frauenbesuche«, sagte sie, ohne sich umzudrehen, als ich an der Tür vorbeiging.
    Lambert zog seine Jacke aus.
    »Sie geht nicht mit aufs Zimmer«, antwortete er und warf die Jacke auf die Kissen.
    Er bot mir das Sofa an.
    Das Mädchen hieß Betty. Sie wechselten ein paar Sätze in sehr schnellem Englisch.
    »Können wir deinen Whisky probieren?«
    Sie streckte die schlaffe Hand zu Lamberts Bein aus und ließ sie an seinem Schenkel entlanggleiten. Eine sinnliche Liebkosung.

    »Du bist hier zu Hause, Darling«, sagte sie mit der rauen Stimme einer Kettenraucherin.
    Lambert lächelte kurz, holte eine Flasche und zwei Gläser und goss uns ein.
    Eine Lampe hing über dem Tisch, eine dicke orangefarbene Papierkugel mit chinesischen Zeichen. Die Zeichen waren schwarz.
    Er reichte mir das Glas.
    »Ihnen ist kalt.«
    Weil ich gezittert hatte.
    Glenfarclas hattest du auch manchmal getrunken. Ich mochte es, wenn du danach schmecktest.
    Ich kuschelte mich in den Sessel und schloss kurz die Augen. Ich trank langsam und sah das Licht durch das Seidenpapier. Eine seltsame Kugel, die der Sonne glich.
    Wir tranken.
    Er erzählte mir von seiner Mutter.
    Ich erzählte ihm nicht von dir. Er holte ein Foto aus seiner Brieftasche und zeigte es mir. Seine Mutter war wirklich bildschön. Der Vater trug eine kleine Brille und Schnurrbart, er war ziemlich groß.
    »Sie haben sich sehr geliebt …«
    Wir tranken weiter.
    Betty ging ins Bett.
    Er steckte das Foto wieder in die Brieftasche.
    »Ich erinnere mich noch an Kleinigkeiten … An eine Ohrfeige zum Beispiel, die mir meine Mutter für eine freche Antwort verpasst hat.«
    Er lächelte.
    »Aber ich kann mich nicht mehr an ihre Haarfarbe erinnern, obwohl ich weiß, wie gern ich ihr Haar angefasst habe. Ich durfte es bürsten. Es war ganz weich.«

    Er sah seine Hände an.
    »Sogar ihre Stimmen habe ich vergessen. Früher konnte ich mich noch daran erinnern, wenn ich mir die Fotos ansah. Dann sah ich sie auch vor mir, als ob sie noch lebten. Jetzt sehe ich sie nicht mehr vor mir, es fühlt sich so an, als wären sie ein zweites Mal gestorben.«
    Er schwieg einen Moment und starrte in sein Glas.
    »Mein Bruder ist noch im Wasser«, sagte er und führte das Glas an seine Lippen.
    »Wenn ich an ihn denke … Er wäre jetzt vierzig.«
    Er trank einen Schluck Whisky.
    »Nach dem Unfall habe ich mir alles Mögliche ausgemalt, dass er sich an einen Felsen geklammert hat, dass ein Schiff ihn an Bord genommen hat, er aber noch zu klein war, um seinen Namen zu nennen. Ich dachte, ich würde eines Tages einen Brief bekommen und ihn wiederfinden. Ich war ganz sicher, aber nachts, in meinen Träumen, sah ich ihn im Wasser, wie er ertrank.«
    Er sah mich an.
    »Die Helfer haben meinen Vater und das leere Segelboot gefunden. Sie haben noch weitergesucht, aber

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