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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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wollte.«
    Er gab mir das Fernglas zurück.
    Wir liefen los.
    »Seit ich hier bin, erinnere ich mich besser an sie. Als mein kleiner Bruder geboren wurde, hat sie gesagt, dass er empfindlicher sei als andere Kinder. Ich weiß nicht, ob es stimmte.«
    »Théo hat so eine Katze.«
    »Wie, so eine ?«
    »Empfindlicher als die anderen. Er sagt, diese eine müsse man mehr lieben.«
    Er nickte.
    »Es kommt mir so vor, als hätte meine Mutter Paul so sehr geliebt, weil sie gespürt hat, dass er früh sterben würde. Es ist dumm, was ich Ihnen da erzähle …«
    »Glauben Sie, dass sie ihn mehr geliebt hat als Sie?«
    Er überlegte.

    »Ich war schon groß, als er zur Welt kam.«
    Er zog seine Jacke aus, ganz plötzlich, ohne mich zu warnen. Die Luft war frisch. Er holte mehrmals tief Atem.
    »Wir wohnten in einem ruhigen Viertel in Paris. In der Nähe war ein Spielzeugladen, Pain d’épice hieß er. Dort arbeitete meine Mutter. Es war ein sehr altes Geschäft … In einer überdachten Passage, Passage Jouffroy … Viele Spielsachen, die wir hatten, kamen von dort. Abends holten mein Vater und ich meine Mutter ab. Im Geschäft gab es einen Bereich, wo man Kuchen essen konnte … Eine Art Teesalon … Ich erinnere mich an Frauen, an ihren Geruch …«
    Er starrte aufs Meer, die Jacke über der Schulter.
    »Als mein Bruder geboren wurde, hat meine Mutter aufgehört zu arbeiten, aber wir sind weiter dort spazieren gegangen. Ich frage mich, ob es diesen Laden heute noch gibt.«
    Er sprach von den Händen seiner Mutter.
    Ich sah seine an. Es hätte zehn seiner Hände gebraucht, um daraus eine einzige von deinen zu machen. Deine Hände, ich hatte sie schon geliebt, bevor ich sie kennenlernte. Ihr Anblick genügte. Ich liebte sie bis zum Schluss, bis zum Ende, als du nicht mehr die Kraft hattest, mich zu berühren. Nicht mehr die Lust. Oft habe ich gewartet, bis du geschlafen hast. Dann bin ich um dein Bett geschlichen. Es war ein animalischer Drang, deine Handflächen an mein Gesicht zu pressen, hineinzuatmen. Deine Haut war trocken geworden. Salzig. Sie roch nach Medizin. Ich schloss die Augen. Ich hörte mich stöhnen. Ich atmete noch. Ich wäre gern erstickt und mit dir begraben worden.
    Lambert zog mich am Arm. Er sah mich seltsam an. Was hatte ich gesagt? Was hatte er begriffen?
    Er lächelte sanft und holte seine Zigaretten raus.
    Als wir bei den Steinen an der Mole ankamen, ging die Sonne unter, und es wurde kalt. Morgane lief vom Strand hoch. Am
Kreuz sah sie uns, winkte uns von weitem, aber sie kam nicht zu uns.
    »Der, der Ihnen die Haare geschnitten hat … Sie haben Löcher … Da und da auch.«
    Er sagte es, ohne mich anzusehen. Dann ging jeder in seine Richtung.
    An diesem Abend waren wir nicht im Restaurant.
     
    Ich blieb eine Weile allein am Strand. Ich fand eine Glasmurmel zwischen den Felsen und steckte sie ein.
    Als ich am nächsten Tag die kleine Bachstelze traf, schenkte ich sie ihr.
    Sie sah mein Gesicht durch die Murmel hindurch an und dann den Hof, die Bäume, sie sah den Hund an.
    Sie spielte den ganzen Vormittag damit, und als ich sie am Nachmittag wieder traf, sagte sie mir, dass sie sie verloren habe.
    Sie erinnerte sich sehr gut an den Moment, in dem sie sie noch hatte, und auch an den Moment danach, als sie sie nicht mehr hatte. Sie hatte noch nie so eine hübsche Murmel gehabt. Wir suchten sie überall, im Hof, in ihren Stiefeln.
    Sogar die Kiste mit den Schalentieren kippten wir um und sahen nach, ob die Murmel vielleicht hineingefallen war. Wir fanden Schneckenhäuser und Käfergehäuse. Wir lauschten dem Rauschen des Meeres in den Muscheln. Wir sangen ein bisschen und vergaßen die Murmel.

I ch weiß nicht, warum ich Théo von dieser Murmel erzählte, aber beim Zuhören begannen seine Augen zu leuchten.
    »Kommen Sie mit.«
    Er führte mich in den Flur. Er fing an, die Stufen der wackligen Treppe hochzugehen, auf denen verschiedene Schüsseln standen. Er bewegte sich langsam, eine Hand ans Geländer geklammert. Auf dem ersten Absatz blieb er stehen, um Atem zu holen.
    »Von dort oben können Sie das Meer sehen.«
    Das weiße Kätzchen ging uns ein paar Stufen voraus. Wir kamen in eine große Bodenkammer, vollgestopft mit alten Möbeln und Kisten.
    »Passen Sie auf.«
    Die Balken waren niedrig, der Holzfußboden in erbärmlichem Zustand. In einer Ecke des Dachbodens, unter der Luke, lag ein kleiner Haufen weißer Knochen, die Théo mit dem Fuß beiseite schob.
    »Das sind die Käuzchen«,

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