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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Foto nicht durch ein anderes ersetzt, und so war ein heller Fleck an der Tapete zurückgeblieben. An den Rändern zeichnete sich schmutziges Grau ab und die Löcher von vier Reißzwecken.
    Lili folgte meinem Blick. Sie sagte nichts. Ich fragte nichts.
    Die Kleine war da, sie hauchte gegen das Fenster, und auf die beschlagene Scheibe schrieb sie ihre Namen, Bachstelze, und darunter noch einen Strich, einen zweiten Strich, einen Kreis und dann noch einen kleinen Strich, der an dem Kreis klebte. Auch dieser Name war ihrer, es war der erste, der, den man ihr gegeben hatte, als sie geboren wurde: Ila.
    Der Name verschwand. Sie hauchte noch einmal und malte anstelle von Buchstaben Sonnen.
    Monsieur Anselme hatte mir erklärt, dass Ila der Name einer kriegerischen Jungfrau war, der Tochter von Odin.

    Die Kleine ließ sich sehr gern die Geschichte ihres Namens erzählen.
    Sie stellte sich vor mich. Wie war ich in ihrem Alter gewesen? Auch so schweigsam?
    »Zwei Raben lebten einst auf den Schultern des Gottes Odin«, begann ich zu erzählen und zog sie an mich. Ich berührte ihre linke Schulter.
    »Auf dieser Schulter hier saß der Rabe der Erinnerung, und auf der anderen der Rabe des Denkens.«
    Die Kleine erschauderte.
    Ich legte die Hände aneinander, um den Flug der Vögel darzustellen.
    »Die Raben flogen jeden Morgen davon, um die Welt zu besuchen. Abends, wenn sie zurückkehrten, erzählten sie Odin alles, was sie gesehen und gehört hatten.«
    Die Bachstelze folgte mit den Augen meinen Händen, die über ihr flogen. Sie wartete, ebenso glücklich wie ungeduldig, dass ich die Geschichte weitererzählte, bis zum letzten Satz, dem allerletzten Satz der Geschichte, wenn ich ihr sagte, dass die Tochter dieses Gottes ihren Namen trug.
    Um ihre Erwartung zu steigern, schwieg ich lange.
    »Die Tochter dieses Gottes hieß Ila.«
    Sie lächelte, in ihren Augen das Bild von sich, Tochter eines Gottes. Sie hauchte erneut gegen das Fenster, und ich schrieb für sie den Namen Odin.
    Sie musterte ihn und zog dann mit dem Finger die Buchstaben nach.
    »Müsstest du nicht in der Schule sein?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    »Heute ist Samstag …«, sagte sie.
    »Es gibt viele Samstage in deiner Woche.«
    Ich betrachtete das seltsame Gesicht. Ihre Wangen waren rund
und weich. Ihr aufgesprungener Mund machte sie für mich noch schöner, wie sie auch der Duft nach Erde schöner machte, der an ihrer Haut haftete.
    Ich drückte ihr ein Geldstück in die Hand.
    »Geh dir Bonbons holen.«
    Sie rannte zum Tresen, und ich füllte weiter meine Tabellen aus.
     
    Lambert überquerte die Straße. Als die Kleine ihn sah, lief sie zum Fenster. Sie presste ihre Hand und das Gesicht ans Glas. Lambert legte den Finger von außen an die Scheibe, hauchte dagegen und schrieb seinen Namen in Spiegelschrift, damit die Kleine ihn lesen konnte.
    Auch sie hauchte. Sie überlegte und schrieb Bachstelze.
    Lambert schüttelte den Kopf. Er schrieb Ila. Sie zeigte auf die Hündin und schrieb Petite Douce . Er sah zu mir, nickte und schrieb Griffue .
    Schließlich schimpfte Lili, weil sie am Ende wieder die Fenster würde putzen müssen.
    Monsieur Anselme betrat das Bistro, als sie noch schimpfte. Lambert kam mit ihm herein. Er entschuldigte sich wegen des Fensters, bestellte ein Glas Wein und Erdnüsse. Lili zeigte auf den Automaten.
    »Bei Erdnüssen ist Selbstbedienung.«
    Er füllte eine Untertasse mit Nüssen, stellte sein Glas auf den Tisch und setzte sich mir gegenüber neben Monsieur Anselme. Dann schob er die Nüsse in die Mitte des Tischs und warf einen Blick auf meine Tabellen.
    »Was gibt’s Neues an Ihrer Steilküste?«
    »Ich habe Eier gefunden, drei weiße Eier mit blauen Linien … Gestern, kurz vor dem Nez de Jobourg. Ich habe auch einen prächtigen Vogel gesehen, den ich nicht kenne. Ich habe ihn gezeichnet. Für die drei Eier habe ich extra eine Tafel angefertigt.«

    Er nickte.
    »Was ist das für eine Tabelle?« Er deutete auf ein Formular.
    »Für die Kormorane, eine Auflistung ihrer Fisch- und Ruhezeiten.«
    Ganze Nachmittage hatte ich mit dem Blick auf der Uhr zugebracht.
    Ich stippte ein bisschen Salz von der Untertasse. Hinter dem Tresen beobachtete uns Lili. Ich weiß nicht, ob sie zuhörte.
    Als Morgane kam, waren wir noch über die Graphiken gebeugt. Sie ging durch den Saal und stürzte sich auf den Flipper, ohne jemandem guten Tag zu sagen. Der Flipper war kaputt. Also machte sie Musik und tanzte vor der Jukebox.
    Lambert sah ihr

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