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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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sagte er, »sie nisten hier, man kann sie nicht daran hindern.«
    Die Knochen waren weiß, so fein wie Nadeln. Neben den Knochen lag der Schädel einer Ratte oder einer Feldmaus. Eine kleine Trittleiter war unter der Luke aufgeklappt.

    »Von hier aus sieht man, wenn es klar ist, das ganze Meer … Man sieht auch den Leuchtturm.«
    Er stieg auf die Trittleiter und öffnete das Fenster. Einen Moment lang blieb er dort oben stehen, den Kopf im Wind, die Augen zum Himmel gerichtet. Seine Beine zitterten wegen der Anstrengung, die es ihm abverlangte, so reglos dazustehen.
    Ich sah mich um. Vergessene, verlorene Gegenstände, unbequeme Stühle, Schirme aus einer anderen Zeit … Der Dachboden war voll von Dingen, die einander fremd waren und dennoch spürbar zueinander in Beziehung standen. Was war in all diesen Kisten? Welche Geheimnisse? Welche Überraschungen? Vielleicht nur alte Putzlappen? Manchmal gleichen die Dinge auf einem Dachboden denen der Erinnerung.
    »Jetzt sind Sie dran.«
    Ich sah die Wiesen und dann das Meer, überall Meer, massig, mächtig. Unter dem niedrigen Himmel hatte es eine metallene Farbe angenommen. Fécamp lag direkt hinter dem Meeresarm. Gegenüber England … Die Häuser von La Roche befanden sich auf der linken Seite. Zwischen den Dächern erblickte ich das Dach der Zuflucht , es war langgestreckter als die anderen. Die hellen Ziegel daneben gehörten zum Haus von Nan. Ich sah mich um. Der Wind trocknete meine Augen aus. La Hague ist kein Landstrich wie jeder andere. Dünn besiedelt, den Menschen eher feindlich gesinnt. Jeden Tag lernte ich etwas von ihm, wie ich von dir gelernt hatte. Mit der gleichen Dringlichkeit.
    Schließlich machte ich die Luke zu. Théo saß auf einer Kiste und wartete auf mich.
    Er sah mich an.
    »Am Anfang habe ich Stunden hier oben verbracht. Ich vergaß sogar zu essen. Ich stand an dieser Dachluke wie in meinem Leuchtturm.«
    Er erhob sich.

    »Das Meer ist eine Krankheit, wissen Sie …«
    Er schlurfte über die Dielen, öffnete eine Schranktür und zog ein Schubfach auf, aus dem er ein kleines Lederkästchen nahm.
    »Diese Schachtel kommt aus Holland, sie gehörte dem Kapitän eines Schiffes, sein Name steht drauf, sehen Sie, Sir John Kepper … Sein Schiff ist gesunken.«
    Der Deckel wurde an den Seiten von zwei kleinen silbernen Schnallen gehalten. Er klappte ihn auf. Die Murmeln darin lagen in kleinen Samtmulden. Eine Mulde war leer.
    »Die Murmel, die Sie gefunden haben, könnte die sein, die hier fehlt.«
    Er stellte das Kästchen auf die Kiste.
    »Wenn Sie sie einmal gefunden haben, finden Sie sie auch noch einmal.«
    Er hielt eine Murmel ins Licht.
    »Manchmal überleben die Dinge, und die Menschen sterben.«
    »Sir John Kepper? Ist das nicht der, von dem man sagt, er spuke im Haus gegenüber von Lili?«
    »Alles Blödsinn! Die Schiffe versinken, die Kapitäne mit ihnen.«
    »Lili sagt, dass …«
    »Zum Teufel damit, was Lili sagt!«
    Er legte die Kugel an ihren Platz zurück, holte eine andere heraus und rollte sie in der Hand. Es war eine Holzkugel, sehr leicht. Es gab auch Kugeln aus Knochen und andere aus Porzellan.
    Unter der ersten Schicht war noch eine zweite versteckt.
    »Diese hier sind aus Marmor, die beiden da aus Ton, und diese hier ist die Kostbarste, das ist eine echte venezianische Perle.«
    Er legte sie in meine Hand. Die Perle war sanft, fast warm. Das Licht jener Zeit war im Lack eingefangen.
    »Das alles hat mir ein Antiquitätenhändler aus Cherbourg erklärt. Er wollte das Kästchen kaufen. Aber ich konnte mich nie
durchringen, es zu verkaufen, vielleicht wegen dieser fehlenden Kugel …«
    Er stellte das Kästchen an seinen Platz zurück.
    »Wenn Sie die Murmel wiederfinden, gehört die Schachtel Ihnen.«
    Dann schloss er die Tür des großen Schrankes zu.
    »Sie wissen nun, wo die Kiste ist. Wenn ich nicht mehr da bin, können Sie kommen und sie holen … Gehn wir runter, es ist kalt hier oben.«
    Das weiße Kätzchen kam etwas verlegen hinter einem alten Kinderwagen hervor. Spinnweben hingen an seinen Schnurrhaaren. Es tapste mit uns hinunter, von einer Stufe zur nächsten springend. Wenn der Abstand zu groß wurde, blieb es stehen und wartete auf Théo.
    Er legte die Hand auf das Geländer und nahm die letzte Stufe.
    »Neulich, als es so geregnet hat und Sie gerade gehen wollten, ist Florelle zu mir gekommen …«
    Er holte seinen Stock und schlurfte durch den Flur, machte die Tür zur Küche auf und ließ sich auf

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