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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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seinen Stuhl fallen. Das Treppensteigen hatte ihn erschöpft.
    Er ging die Medikamente auf dem Tisch durch und wählte ein durchsichtiges Fläschchen mit kleinen blauen Kapseln aus.
    »Sie hätte ich heiraten sollen! Warum tut man nicht, was man tun muss? Wovor hat man Angst? Ich war zehn, da liebte ich sie schon.«
    Er schluckte eine Kapsel mit etwas Wasser, stand von seinem Stuhl auf und setzte sich in den Sessel.
    »Wissen Sie, wie man sie hier nennt? Die Überlebende! Und das nur, weil sie nicht mit den anderen umgekommen ist.«
    Das Kätzchen rollte sich auf ihm zusammen. Die anderen Katzen sahen zu, die Augen halb geschlossen, gleichgültig ob dieser zusätzlichen Aufmerksamkeit, die es genoss.

    Er verzog das Gesicht.
    »Sie haben sie gezwungen, im Schatten ihrer Toten aufzuwachsen. Mit zehn Jahren ging sie schon über die Straße, um das Grab zu fegen. Sie besuchte jede Messe, nahm an jedem Gebet teil. Ich habe sie nie anders als in ihren schwarzen Kleidern gesehen.«
    Er erzählte mir von ihr, lange.
    Nan hatte das gleiche Schicksal wie die Vestalinnen – von der Gemeinschaft dazu verdammt, die Hüterin ihrer Toten zu sein! Die Vestalinnen waren keusch. War Nan es gewesen? Ich schaute auf Théos Hände. Seine alten Hände, die männliche Hände gewesen waren. Konnte man lieben, ohne zu liebkosen? Ohne jedes Begehren?
    »Von der Dachluke aus habe ich oft das Dach ihres Hauses betrachtet und ihren Hof. Das Licht am Abend, ich habe immer gewusst, ob sie noch wach war oder schon schlief.«
    Ich nickte.
    »Sie liebten Nan und haben eine andere geheiratet.«
    Er lächelte.
    »Die Mutter war schwanger.«
    Er sah mich an.
    »Ich liebte sie nicht. Lili habe ich auch nicht geliebt.«
    Er sagte es ohne Härte, aber seine Stimme brach, wie eingeklemmt in einem Rest von Zorn.
    »Unzählige Male habe ich daran gedacht, sie zu verlassen. Doch dann hätte ich auch La Hague und den Leuchtturm verlassen müssen. Ich war feige … Das denken Sie bestimmt … Ich war feige, und jetzt werde ich sterben.«
    Seine Hand auf der Armlehne zitterte. Er sah sie an, als gehörte sie nicht mehr zu ihm.
    »Hat Nan nie geheiratet?«
    »Nie.«

    Er hob das Kätzchen hoch und setzte es auf den Boden, dann verschwand er im Nebenzimmer. Das Kätzchen schaute ihm nach. Es ging mit vorsichtigen Schritten zum Ofen und schnupperte an dem alten Wollpullover, der dort zwischen den gusseisernen Füßen lag. Schließlich legte es sich darauf und zog die Vorderpfoten unter den Oberkörper. Als Théo wiederkam, lag es mit geschlossenen Augen da und genoss die Wärme des Ofens.
    Théo setzte sich wieder mir gegenüber. Er brachte ein Album mit, das er auf den Tisch legte und dessen erste Seiten er überblätterte. Plötzlich zeigte er mit dem Finger auf ein Foto.
    »Das ist Florelle. Vor der Zuflucht  …«
    Man sah das Gebäude, dessen weit geöffnete Fenster die Sonne hereinließen. Vor der Tür hielten sich vier Kinder bei den Händen. Eine junge Frau stand neben ihnen. Sie schaute nicht ins Objektiv, sondern die Kinder an.
    Sie war jung, vielleicht dreißig, schön, aber mit ernstem Blick. Hinter ihr stand noch eine Frau, mit einer Schüssel in den Händen. Sie trug einen Kittel.
    »Das ist Ursula, sie hat in der Zuflucht gekocht.«
    Ein Schatten auf dem Boden, vom Baum im Hof. Über der Tür, in der Nische, schien die steinerne Jungfrau zu wachen.
    Théo blätterte weiter. Er zeigte mir andere Fotos von Nan. Er erzählte mir vom Leben in der Zuflucht , von der Kälte, die dort im Winter geherrscht hatte. Nur ein einziges Zimmer war beheizbar gewesen, das große Gemeinschaftszimmer. Die Kinder waren mit einem in ein Tuch gewickelten Stein ins Bett gegangen, den sie vorher im Feuer erwärmt hatten.
    Es gab ein sehr schönes Foto von diesem Gemeinschaftsraum mit den Kindern an den Tischen und Nan zwischen ihnen.
    Théo berichtete, dass die Zuflucht seit fast zwanzig Jahren geschlossen war. Warum man sie geschlossen hatte, sagte er nicht.
    Als ich ging, sah er immer noch das Foto an.

I ch ging zu Lili, um meine Tabellen auszufüllen. Obwohl es keine langwierige Arbeit war, langweilte sie mich. Meistens erledigte ich das Ausfüllen der Tabellen an Regentagen. Doch dieses Mal war ich bereits im Verzug, ich konnte es nicht länger aufschieben. Ich setzte mich auf meinen üblichen Platz und bemerkte sofort, dass das Foto an der Wand, auf dem Lili mit ihren Eltern zu sehen gewesen war und dem Kind, das sie Michel genannt hatte, fehlte. Sie hatte das

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