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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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anfertigen?«
    »Viele …«
    Ich zeigte auf den Himmel.
    »Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Vogelarten es gibt. Es gibt solche, die hier leben und niemals wegziehen, dann gibt es Zugvögel, die nur Halt machen, um sich fortzupflanzen oder den Winter hier zu verbringen, und wieder andere, die weiterfliegen müssten und es nicht tun …«
    Er nickte.
    »Das kann ich mir nicht vorstellen, stimmt. Und warum sind Sie hergekommen? Sind Sie auch ein Zugvogel?«
    »Kann man so sagen. Ich hatte vor allem genug davon, den ganzen Tag zu reden. Als ich damals erfahren habe, dass das Ornithologische Zentrum von Caen jemanden sucht, habe ich mich beworben und …«
    Er blätterte weiter im Heft und machte bei der Zeichnung eines jungen Kormoranpärchens Halt, das ich ein paar Tage
zuvor nahe beim Leuchtturm beobachtet hatte. Ihr Gefieder war wunderbar, ebenso wie ihre Treue zueinander. Ich hätte mich gern mit ihm über etwas anderes unterhalten als über Vögel. Ich wollte wissen, ob er die Trommel mitgenommen hatte.
    »Zeichnen Sie immer beide, Männchen und Weibchen?«
    »Wenn möglich … Ich zeichne auch die Eier und die Nester.«
    »Und was ist das?«
    Er zeigte mir die Zeichnung einer Kröte ganz hinten im Heft.
    »Kommt sie auch in die Enzyklopädie der Vögel?«
    »Nein, aber diese Kröte ist etwas Besonderes. Das Männchen massiert den Bauch seines Weibchens, damit es Eier legt, und danach nimmt es die Eier auf den Rücken und kümmert sich darum. Das fand ich sehr sympathisch.«
    »Wenn Sie das zeichnen, was Sie sympathisch finden, habe ich ja eine Chance …«
    Er schlug das Heft zu und behielt es einen Moment in der Hand. Dann rieb er über den Ledereinband und schaute dabei aufs Meer.
    Möwen zogen über uns hinweg in Richtung Hafen. Am Abend wurde Regen erwartet.
    »Heute sind Sie hier, und wenn Sie Ihre Zeichnungen fertig haben, gehen Sie wieder weg? … Ich habe ein Haus im Morvand, mit dicken Steinwänden. Wenn ich weggehe, kehre ich immer dorthin zurück. Ich gehe nicht gern weg.«
    Er wandte mir das Gesicht zu, sah mich einen Moment lang an.
    »Kommt es auch vor, dass Sie sich binden?«
    Mich binden? Das wollte ich nicht. Nicht so schnell. Ich sagte es, leise, fast ohne die Lippen zu bewegen: »Ich will mich nicht binden.« Es war zu einer Krankheit geworden.

    Als Kind war ich agoraphob gewesen, das Wort hatte mir gefallen, ich hatte es meinen Freundinnen erzählt, Agora, das klingt doch gut, findet ihr nicht? Später wurde ich allergisch gegen Katzen. Anscheinend verschwindet die Allergie, wenn man Katzen gern hat.
    Jetzt war es die Angst, mich zu binden. Ich weiß nicht, ob es für Bindungsangst eine Bezeichnung gibt.
    Du hast mir vom Realitätsprinzip erzählt, ehe du gegangen bist. Ich will es mit dir schaffen, ohne Schmerz, hast du gesagt. Schmerz, in den letzten zwei Monaten hast du nichts anderes mehr gekannt. Gekrümmt in deinem Bett, wusstest du nicht mal mehr, dass das Schmerz heißt.
    Lambert schleuderte einen Stock weg.
    »Und kommt es oft vor, dass Zugvögel ihre Meinung ändern?«
    »Es kommt vor …«
    Er zündete eine Zigarette an, das Gesicht über die Hände gebeugt.
    »Eigentlich sollten wir uns duzen, das wäre einfacher, oder?«, fragte er und blies den Rauch aus.
    »Einfacher?« Ich schüttelte den Kopf.
    »Nein, wir duzen uns nicht.«
    Er schwieg einen Moment. Die Gänse flogen weg, zusammen, in einer sehr schönen Formation. Sie verschwanden über dem Festland.
    Wir blieben sitzen, als wären die Gänse noch da.
    »Vorhin haben Sie gesagt, dass Sie sich beworben haben und … Sie haben Ihren Satz nicht vollendet.«
    »Nichts … Ich wurde genommen und bin gegangen.«
    Du bist auch gegangen. Doch das sagte ich ihm nicht.
    »Man muss seine Sätze immer vollenden … Wenn ich in der Schule den Mädchen erzählte, dass ich keine Eltern mehr habe,
hatten sie Mitleid. Manche hielten es sogar für Liebe. Funktioniert das bei Ihnen nicht?«
    »Was?«
    »Mitleid?«
    »Nein, bei mir funktioniert das nicht.«
    Er zog die Brauen hoch.
    »Das hatte ich befürchtet.«
    Er warf noch mehr Stöcke ins Wasser. Sie schwammen an der Oberfläche. Ein paar Meter von uns entfernt lief eine Schnepfe über den Strand, die Füße versanken im Schlick. Sie suchte Sandflöhe.
    Ein grauer Brachvogel auf den Felsen. Der schwarze Schatten einer Eiderente.
    »Und die Trommel, wissen Sie, wie sie auf die Böschung gekommen ist?«
    »Nein, ich weiß es nicht.«
    Er lächelte.
    Er erzählte

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