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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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klammern, sie machen sich Steigbügel, indem sie mehrere Haare zusammenknoten.«
    Sie nahm meine Hand und führte sie an die Mähne, damit auch ich sie berührte.
    »Feen sieht man niemals tagsüber, nur nachts.«
    »Wo sind sie tagsüber?«, fragte ich.
    Sie lächelte.
    »Das weiß man nicht.«
    Sie streichelte den Hals. Sie nahm den Kopf des Pferdes zwischen die Hände und kratzte die Kruste aus getrockneten Tränen ab, die in den Augenwinkeln klebte.
    Ich hatte Geschichten über Feen gelesen, in einer Zeitschrift, die ich in der Griffue gefunden hatte. Darin hatte gestanden,
dass Feen Menschenbabys aus ihrer Wiege nahmen und sie gegen ihr eigenes Baby austauschten.
    Ich fragte Nan, ob das wahr sei.
    Sie nickte.
    »Niemand weiß, warum sie das tun, aber so etwas kommt vor.«
    Sie lächelte, ein unendlich sanftes Lächeln.
    »Die Feenkinder sind etwas Besonderes, sie brauchen sehr viel zu essen, aber sie wachsen nicht. Man nennt sie die Fêtets .«
    Sie sah mich wieder an.
    »Es bringt Unglück, ein Fêtet in seinem Haus großzuziehen, deshalb zeigen die, die eins haben, es nie.«
    »Was machen sie damit?«
    »Sie verstecken es. Ich habe auch schon jemanden getroffen, der sein Fêtet getötet hat«, sagte sie sehr schroff, dann ging sie weg.
    Das Pferd starrte aufs Meer. Ich blieb bei ihm. Sein Hals war nassgeschwitzt. Bestimmt hatte es Fieber. Zwei Tränen der Müdigkeit flossen aus seinen Augen.
    »Das sind Mondperlen.«
    Ich spürte Lamberts Atem in meinem Nacken. Ich erkannte seinen Körper, ohne ihn zu sehen.
    »Mondperlen … So nennt man die Tränen der Pferde.«
    Sein Geruch nach Leder mischte sich mit dem der Tiere. Ich drehte mich nicht um.
    Nan sah ihn neben mir stehen.
    Sie kam langsam auf ihn zu.
    Sie lächelte ihn an. Es war ein ganz besonderer Moment, als alle Esel um uns herumstanden mit den Kindern, die sie fütterten, und der Heide, so weit das Auge reichte, der Erika und dem Meer.
    Nan kam ganz nah an Lambert heran.

    »Erinnerst du dich, als du klein warst, haben wir hier auf sie gewartet.«
    Es war schrecklich mitanzusehen, wie sich Lamberts Gesicht verkrampfte.
    Nan seufzte leise.
    »Es ist gut, dass du zurückgekommen bist.«
    Sie sagte diesen zweiten Satz in demselben ruhigen Ton.
    Lambert schüttelte ganz langsam den Kopf, aber er ging nicht weg.
    »Ich bin nicht der, den Sie suchen.«
    Das sagte er.
    Nach einer ganzen Weile drehte er sich zu ihr um.
    »Wen suchen Sie denn?«
    Sie antwortete nicht. Sie summte, eine sanfte Melodie, ohne Worte.
    Er sah erst mich an und dann wieder sie. Er berührte ihren Arm, damit sie aufhörte, dieses Lied zu singen.
    »Wer bin ich für Sie?«
    Nan lächelte ihn an.
    »Du bist Michel.«
    Er nickte.
    »Aber wer ist Michel?«
    Nans Augen glitten über sein Gesicht, für einen Moment ratlos.
    Im Gras an der Böschung lag die kleine Trommel, auf der die Bachstelze gespielt hatte. Sie hatte sie dort mit den beiden Holzstöcken liegen lassen. Lambert entdeckte sie und hob sie auf.
    Es war ein kleines Spielzeuginstrument aus Pappe, die Farben von der Zeit verblasst. Ein Clown mit blauer Nase war auf das gespannte Fell gemalt. Die Farbe war hier und da abgeplatzt. Man konnte nur noch Reste erkennen.
    Lambert strich mit einem Finger über das Fell der Trommel.

    »Dieser blaue Clown …«
    Er drehte die Trommel in seiner Hand hin und her.
    »Stimmt was nicht?«, fragte ich.
    Dann drehte er die Trommel langsam, fast vorsichtig um.
    »Dieser Spielzeugladen, in dem meine Mutter gearbeitet hat … Die Passage in Paris …«
    Er suchte etwas. Er sah sich den Boden der Trommel an und dann die Seiten, zwischen den Holzleisten, die als Gestell dienten. Plötzlich hielt er inne und steckte den Finger in einen Rhombus, den die Leisten formten. In diesem Zwischenraum, so breit wie zwei Briefmarken, klebte ein vergilbtes Etikett.
    Er zeigte es mir.
    Ich las: Pain d’épice, Spielzeugladen, Passage Jouffoy, Paris .
    »Das ist der Laden, von dem ich Ihnen erzählt habe …«
    Plötzlich war die Erinnerung wieder da. Ich erkannte den Moment in seinen Augen, und ich wusste, dass er seine Vergangenheit wiedergefunden hatte.
    »Das war Pauls Trommel!«
    Er drückte sie an sich. Seine Hand rieb die Pappe. Er atmete ihren Geruch. Mehr als die ganze Landschaft, mehr sogar als das Haus schien ihm dieser Gegenstand seine Kindheit zurückzugeben. Welche Bilder? Welche Erinnerungen? Er war erschüttert.
    »Alles in Ordnung?«, fragte ich.
    »Alles in Ordnung«, antwortete er.
    Er

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