Die Brandungswelle
hatte. Zweiundvierzig waren viel, aber früher waren es noch mehr gewesen.
Dieser Felsen war ein großer Brutplatz. Die Fischer kamen mit ihren Booten her, sie legten ihre Netze aus, und die Vögel verfingen sich darin. Man fand die treibenden Körper im Wasser.
Die Wellen brachen direkt unter uns. Ihr Schlag ließ den Boden zittern.
»Stört Sie die Stille nicht?«, fragte er, ohne sich umzudrehen. Weil ich seit einer Weile nichts mehr gesagt hatte und weil er sicher wieder mit mir gesprochen hatte.
Ich schüttelte den Kopf.
Ich dachte an das erste Mal, als ich ihn gesehen hatte. Viele Menschen sind hierhergekommen, manche wären gern geblieben, aber La Hague hat sie vergrault. Andere hat La Hague gepackt.
Jahre später sind sie immer noch da, ohne dass sie erklären können weshalb.
Die Stille gehört zur Heide. Ich war ein Teil von ihr. Sie hatte meine Wunden geheilt. Mich von dir genesen lassen.
Wie oft hatte ich hier am Rand der Steilküste, gestanden und geschrien? Was hatte Lambert von meinem Schweigen verstanden? Sein Blick erforschte mich, drängte sich auf, mit Gewalt. Ein brutaler Kontakt. Ich rührte mich nicht.
Unten dröhnte es. Es war das steigende Meer. Seine Schläge ließen das Innere der Steilküste vibrieren. Es war ein seltsames Beben.
»Wenn Sie den Bauch auf den Boden pressen, spüren Sie den Schlag des Meeres.«
»Sie wollen, dass ich mich hier hinlege?«
»Ich will gar nichts.«
Er lächelte.
Streckte sich aus.
»Ich höre nichts.«
»Nicht nur mit den Ohren. Sie müssen es spüren.«
Er blieb liegen, ohne etwas zu sagen.
Ich stand auf und ging bis zum Rand der Steilküste. Das Meer bedeckte die Felsen. Spülte die Algen hoch. Würde ich noch lange hierbleiben können? Morgane wollte weggehen.
Auf einem Felsvorsprung schlugen zwei Kormorane in der Sonne mit den Flügeln. Ihr Gefieder war ölig grün, fast schwarz. Diese beiden Vögel lebten seit einigen Wochen als Paar zusammen. Sie mussten noch keine Eier bewachen, sie fischten gemeinsam.
Ich drehte mich um. Lambert lag immer noch ausgestreckt da.
»Sie sind verkrampft … Wenn man verkrampft ist, spürt man nichts.«
»Ich bin nicht verkrampft.«
Er richtete sich auf. Ein Ohrenkneifer klammerte sich an den Kragen seiner Jacke.
»Angeblich lieben männliche Kormorane ihr Weibchen ein Leben lang«, sagte ich.
Er klopfte die Erde ab, die an seinen Knien klebte.
»Sie leben nicht so lange wie die Menschen, für sie ist es einfacher. Verbringen Sie hier Ihre Zeit?«
»Hier und noch etwas weiter.«
»Und dafür bezahlt man Sie?«
Darüber musste ich lachen.
»Man bezahlt mich und gibt mir ein Dach über dem Kopf.«
Er nickte. Der Ohrenkneifer hing immer noch an seinem Kragen. Schäfer waren wahnsinnig geworden, weil ein Ohrenkneifer in ihren Schädel gekrochen war, während sie im Schatten eines Baumes schliefen.
»Wenn sie erst mal drin sind, knabbern sie sich durch das Gehirn und kommen auf der anderen Seite wieder raus …«
»Wovon reden Sie?«
Ich zeigte ihm den Ohrenkneifer.
»Es gibt ein Krankenhaus in Cherbourg, das sich sehr gut um Sie kümmern würde … Was haben Sie gedacht, damals, als Sie Théo auf seinem Hof wiedergesehen haben?«
»Ich habe daran gedacht, ihn zu schlagen. Und dann habe ich an meine Mutter gedacht … Ich habe mir überlegt, dass sie sehr traurig wäre, wenn ich das tun würde, und dann ist mir wieder eingefallen, dass meine Mutter tot ist.«
Ein schwarzer Schatten tauchte ein paar Meter vor uns ein. Er bewegte sich unter der Wasseroberfläche, schnell, präzise. Es war ein Kormoran. Der schwarze Körper verschmolz mit dem grauen Glanz der Wellen, Milliarden winzige Leuchtpunkte. Meistens blieben Kormorane eine Minute unter Wasser. Am
schwierigsten war es, sie zu erwischen, wenn sie wieder aufstiegen.
»Sie hören mir nicht zu …«
»Ich höre Ihnen zu. Sie haben an Ihre Mutter gedacht, und dann ist Ihnen eingefallen, dass sie tot war.«
Ich sah ihn an. Seine grauen Augen waren dunkler geworden.
Er litt.
Ich litt auch.
»Jeder hat sein Päckchen zu tragen«, sagte ich. »Ich das meine, Sie das Ihre. Alle. Auch die Kormorane …«
»Manche Päckchen sind größer als andere.«
Ich sah ihn an, seine gewölbte, fast dickköpfige Stirn.
»Päckchen ist Päckchen«, sagte ich.
Ich schnappte nach Luft. Hunde hecheln mit der Zunge. Und Katzen, wie machen es Katzen?
»Wissen Sie, wie eine Katze schwitzt?«, fragte ich ihn.
Er wusste es nicht. Ich auch
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