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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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Flügel rauschten, die Schnäbel klapperten, die Körper streiften einander. Das Ansteigen des Meeres brachte sie dazu. Sie erwarteten die Rückkehr der Fischer.
    Max nervte das ganze Gekreische.
    »Bum!«, sagte er und schaute nach oben.
    »Was Bum?«, fragte Lambert.
    Max verschwand in der Kabine und tauchte mit einem Gewehr wieder auf, er lud es, während er lief. Er zielte in den Haufen und schoss.
    Eine Möwe fiel zu Boden, die anderen flogen weg. Er kam seelenruhig zu uns zurück, sein langer Körper schaukelte dabei wie am Ende seines Arms das Gewehr.
    »Das Bum!«, sagte er.
    Lambert und ich sahen uns an.

    »Das ist die Erlösung vom Infernalischen«, stellte Max fest und kniff die Augen zusammen.
    Wir nickten.
    Wir setzten uns auf die Terrasse, an einen Tisch in der Sonne, und bestellten zwei Gläser Wein.
    Lambert hatte von einem Kind auf Théos Hof gesprochen. Ein Kind, das ein Kalb geführt hatte.
    Konnte es das Kind sein, das ich auf dem Foto bei Lili gesehen hatte? Wenn ja, handelte es sich um Michel, den Jungen, den Nan suchte?
    »Dieser Junge mit dem Kalb, wie sah er aus?«
    Lambert sah mich erstaunt an.
    »Keine Ahnung … Ein kleiner Junge eben. Warum fragen Sie danach?«
    »Erinnern Sie sich an gar nichts?«
    »Ich habe ihn kaum angesehen. Ich war wegen Théo gekommen.«
    »Aber trotzdem erinnern Sie sich an ihn. Weil er das Kalb am Strick führte?«
    Er überlegte. Die Sonne ließ ihn das Gesicht verziehen, wie an jenem Tag, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hatte, im Wind des nahenden Unwetters.
    »Ich wusste damals nicht, dass Lili einen kleinen Bruder hatte, darüber hatte ich mich gewundert …«, sagte er schließlich.
    Er schwieg eine ganze Weile, dann schüttelte er sich, als würde er es nicht schaffen, an etwas anderes zu denken.
    »Ihren Kormoranfelsen, könnten Sie mir den nicht stattdessen zeigen?«
    »Statt was?«
    Er stand auf.
    »Statt gar nichts.«

     
    Wir fuhren zur Steilküste, ließen das Auto auf dem Parkplatz von Écalgrain stehen und gingen dann zu Fuß weiter. Wir hatten beschlossen, danach in La Bruyère zu essen.
    Lambert ging zügig und setzte den Fuß schön flach auf. Er war ein erfahrener Wanderer.
    An der Steilküste verließen wir den Weg und durchquerten enge, von Dornen gesäumte Passagen. Später kamen wir an niedrigem Buschwerk und Gestrüpp vorbei, kurz darauf an vom Wind verbranntem Gras. Ein schwindelerregender Vorsprung. Das Meer unendlich weit unten.
    Ich war oft dorthin gekommen, um zu vergessen.
    Wir machten ganz dicht an der Steilküste Halt, fast am Rand, zwei verlorene Seelen im Angesicht des Meeres, des Ursprungs der Welt. Das Meer wich zurück, kam wieder, Bäume wuchsen, Kinder wurden geboren und starben.
    Andere Kinder traten an ihre Stelle. Und das Meer blieb dabei immer gleich. Eine Bewegung, die keiner Worte bedurfte. Die wirkte. Seit Monaten verschmolz ich mit dieser Landschaft, langsam wie ein Tier im Winterschlaf. Ich schlief. Ich aß. Ich lief. Ich weinte. Vielleicht war meine Anwesenheit hier deswegen möglich. Weil sie akzeptabel war. Wegen meiner Stille.
    »Das ist der Kormoranfelsen«, sagte ich.
    Er ging voran.
    Ich ließ ihn gewähren. Man musste allein sein beim ersten Mal, um das zu sehen.
    Er blieb stehen, rührte sich nicht, seine Arme hingen am Körper herab, und der Wind blies ihm ins Gesicht. Woran er wohl dachte? Welche Rechnung wollte er begleichen?
    Ich setzte mich etwas weiter weg auf einen Stein. Ich hätte ihm gern das Foto von dem Kind auf dem Hof gezeigt, ihn gefragt, ob er es erkannte. Aber Lili hatte das Foto weggenommen.
    Lambert drehte sich um. Er sah mich an. Ich berührte mit
der Hand das Steinmäuerchen, den Farn, dessen körnige Sporen unter meinen Fingernägeln knisterten. Hier, an diesen Mauern, wuchs eine seltsame kleine Pflanze, die man Unglückskraut nannte. Die Legende erzählt, dass derjenige, der auf das Unglückskraut tritt, sich in der Heide verläuft, er irrt den Rest seines Lebens herum, außerstande, seinen Weg wiederzufinden.
    Du warst mein Unglückskraut.
    »Die Kormorannester sind an der Steilküste«, sagte ich und zeigte ihm die Stelle.
    Ich gab ihm das Fernglas.
    Die Nester schmiegten sich an Felsvorsprünge. Beinahe schwebend. Im Gebüsch versteckt, den Bauch im Farn, fraßen die Wildziegen.
    Es gab viele Kormoranpaare. Ich hatte etwa zehn auf diesem Felsen gezählt und zwei etwas weiter entfernt. Zweiundvierzig insgesamt, zusammen mit denen, die ich an der Anse des Moulinets entdeckt

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