Die Brandungswelle
nicht.
Einmal hatte ich an einem Tag ein und denselben Vogel mehr als dreihundert Mal eintauchen sehen. Der Tauchvorgang hatte jeweils anderthalb Minuten gedauert.
Das sagte ich ihm. Ich war müde.
Zwischen uns stieg die Spannung. Zu kompliziert.
Er schaute zum Leuchtturm.
»Nichts hat sich verändert, die Häuser sind dieselben, die Heide … Die Söhne gleichen den Vätern, alles ist gleich geblieben und trotzdem … Ich möchte Théo gerne hassen, aber es geht nicht mehr.«
»Ist es das, was Sie so schmerzt? Nicht mehr so unerträglich zu leiden, gelernt zu haben, mit der Ungerechtigkeit, mit dem Tod der anderen zu leben. Zu überleben. Immer weiter zu überleben. Gegen alles und jeden. Selbst gegen den Tod. Und sich eines Tages dabei zu überraschen, dass man lacht.«
Eine Möwe flog vorbei, und der Schatten des Vogels glitt über sein Gesicht.
»Früher habe ich geschrien …«, sagte er.
Ich senkte den Blick und wandte mich ab.
Ich hatte auch geschrien.
Wenn man Mensch-ärgere-dich-nicht spielt, darf man bei einer Sechs nochmal würfeln. Wenn der Würfel auf den Boden fällt, muss man noch einmal würfeln. Daran dachte ich. Und wenn der Würfel auf die Kante fällt, muss man auch nochmal würfeln.
Aber das Leben ist kein Würfelspiel.
Früher hatte ich mir Gedichte aufgesagt. Aragon konnte ich auswendig, auch ganze Seiten von Rilke.
»Er hat das Licht des Leuchtturms ausgeschaltet in jener Nacht. Ich weiß nur noch nicht warum.«
Er konnte von nichts anderem mehr sprechen, er war wie gefangen in einem Tunnel. Er drehte sich im Kreis. Ich musste an die Fledermaus denken, die gegen das Auto geflogen war, ohne dass ich verstanden hatte weshalb. Und an die Stute, die verrückt geworden war, weil sie immer im Kreis gehen musste.
Auch ich rannte gegen eine Wand. Ich hatte Angst zu lieben. Das hatte mir dein Tod hinterlassen.
»Es gibt nicht immer ein Warum …«, sagte ich.
»Und das Warum ist manchmal enttäuschend, ich weiß, das hat man mir tausendmal gesagt.«
Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette, die rote Glut erlosch am Filter.
»Mein Vater kannte die Strömungen, er kannte sein Boot. Er fuhr gern nachts hinaus, er wäre kein Risiko eingegangen, erst recht nicht mit Paul.«
Das sagte er: Nicht mit Paul.
Er ging den Pfad entlang, die Hände in den Taschen. Er drehte
und wendete jede Erinnerung. Durchleuchtete jedes Detail. Der Pfad war schmal. Der Farn wurde dünner, er machte kleinen verkrümmten Bäumen Platz, deren schwarze Äste vom Salz verätzt waren.
»Als sie losgefahren sind, stand ich mit Lili am Kai. Wir haben ihnen nachgesehen. Sie fuhren nach Aurigny. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter sich vorgebeugt und uns mit ihrem Hut gewunken hat … Es war ein Leinenhut mit einem roten Band. Das ist das letzte Bild, das ich von ihr habe, diese Hand und dieser Hut.«
Er blieb stehen und starrte aufs Meer, auf die vom Nebel verschluckten Umrisse, die Insel Aurigny ganz in der Nähe.
»Lili und ich haben den Tag bei den Felsen verbracht. Ihre Mutter hat uns Kuchen gebacken.«
Wir erreichten den Weg und gingen zurück zum Auto. Er lief vor mir. Plötzlich blieb er stehen, ganz plötzlich. Ich weiß nicht, weshalb er das tat.
Ich prallte gegen seinen Rücken.
»Bleiben Sie nicht einfach so stehen«, murmelte ich, die Hand an seiner Jacke, das kalte Leder an meiner Haut.
Ich atmete den Ledergeruch ein, die Nähe des Mannes. Es war stark. Ich hätte die Arme um ihn schlingen und an seinen Rücken gepresst bleiben können. Ich hätte mich ihm hingeben können, als mögliche Antwort auf alle seine Fragen.
Ich war keine mögliche Antwort.
Ich löste mich langsam.
Ich nahm meine Hand vom Leder.
Ich holte tief Luft.
Er sprach, ohne sich umzudrehen.
»Wissen Sie, warum man das macht? Tief Luft holen, wie Sie eben?«
Ich wusste es nicht.
»Das sind die Zellen«, sagte er. »Sie müssen sich wieder mit Sauerstoff füllen. Das macht man oft nach einer starken Erregung.«
Er drehte sich um, schaute mich an. Wie sah ich in diesem Moment wohl aus? Wie war mein Gesicht?
Er legte die Hand an meine Wange, und ich hatte Lust, sie zu beißen.
L ambert setzte mich auf dem Platz ab. Er erwartete Interessenten für sein Haus. Die Bäckersfrau nutzte den Sonnentag, um von ihrem Lieferwagen aus Frühlingscroissants zu verkaufen. Auch eine Art, die Ankunft der schönen Tage zu feiern.
Sie hatte vor der Kirche geparkt.
Es waren besondere Croissants, mit Orangengeschmack.
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