Die Brandungswelle
Sie haben Recht.«
Er legte die Blume dahin, wo Sekunden zuvor der Schmetterling gesessen hatte.
»Mir wurde zugetragen … Aber das sind womöglich alles nur Gerüchte … Wobei doch immer ein Kern Wahrheit in diesen Geschichten steckt, die man sich erzählt.«
Er sah auf seine Handinnenflächen, als suchte er dort die richtigen Worte, um mir zu erzählen, was er zu sagen hatte.
»Das Waisenheim von Cherbourg hatte Nan Kinder anvertraut, Waisen oder Kinder, die von ihren Eltern weggegeben worden waren … Haben Sie das gewusst?«
»Ja.«
»Dann wissen Sie wohl auch, dass diese Kinder so lange in der Zuflucht geblieben sind, bis man eine Familie für sie gefunden hatte. Manchmal dauerte es Wochen oder Monate.«
Er zerdrückte etwas Erde, fette, weiße, von Salz durchtränkte Erde zwischen seinen Fingern.
»Warum saßen Sie neulich bei ihr auf der Bank?«
Seine Frage überraschte mich.
»Ich kam vorbei …«
»Sie haben ihr Croissants gebracht?«
»Ich hatte sie dabei …«
Er lächelte.
»Frühlingscroissants! Und was sollte sie Ihnen erzählen, dass Sie sie so verwöhnt haben?«
Seine Frage gefiel mir nicht, das, was sie unterstellte. Ich sprang auf, aber er packte meine Hand.
»Nicht so ungeduldig! Ertragen Sie denn nicht einmal die kleinste Spitze? Ja, so sind die Einzelgänger. Passen Sie nur auf, das kann auch hinderlich sein.«
Er hielt meine Hand weiter fest, so dass ich mich wieder setzen musste.
»Sehen Sie sich lieber diese Eidechse an.«
Das Tier auf dem Stein kaute immer noch, sein Blick ging ins Leere. Ein kleines Ende blauer Flügel hing noch zwischen seinen Kiefern.
Verdauen Eidechsen Schmetterlingsflügel? Vielleicht spucken sie sie wieder aus. Diese hier schien sie hinunterschlucken zu wollen.
Ich fragte mich, ob in den Schmetterlingsflügeln Blut fließt.
Monsieur Anselme hatte gewartet, bis ich saß, ehe er weitersprach.
»Ursula sagt, dass Nan in ihrem Haus Fotos von allen Kindern aufbewahrt, die sie in der Zuflucht betreut hat. Wenn das Wetter es zuließ, ging sie jeden Nachmittag am Strand spazieren, und ein paar dieser armen Kälbchen klammerten sich an ihre Röcke.«
Ich hatte meine Wut vergessen.
Ich hörte ihm zu.
Er ließ meine Hand los, er wusste, dass ich nicht mehr weglaufen würde, nicht solange er sprach.
»Ursula hat mir auch erzählt, dass eines Tages ein neuer Zögling angekommen ist, ein kleiner Bub, mager wie ein halber Spatz. Man habe ihn in Rouen gefunden, hat sie erzählt, an einem Ort, der während der großen Pestepidemien als Massengrab gedient hatte. Seine Mutter hatte dort, auf der nackten Erde, entbunden und ihn dann zurückgelassen. Er war drei Jahre alt, als er in die Zuflucht kam. Er war sehr klein, nicht besonders hübsch, niemand wollte ihn. Ursula sagt, Nan habe ihn mehr ins Herz geschlossen als alle anderen. Sie sagt auch, dass dieser Junge manchmal weggelaufen ist, aber dass man ihn immer wieder am selben Ort wiedergefunden hat, ganz allein, auf einem Stein am Meer. Wenn man ihn fragte, woran er dachte, sagte er, er wisse es nicht.«
Monsieur Anselme erzählte noch mehr von diesem Kind mit dem sanften Wesen, das immer wieder zurückkam, ohne Widerstand zu leisten, und trotzdem wieder weglief.
Das Meer stieg. Vor uns leckten die Wellen den Strand.
»Das Erstaunlichste an dieser Geschichte ist, dass Nan dieses Kind adoptiert hat.«
Ich sah ihn an.
»Nan hat ein Kind?«
»Wenn ich es Ihnen sage. Sie hat es in die Schule geschickt, erst hier, später dann in Cherbourg. Wenn man Ursula glauben darf, muss er ein sehr guter Schüler gewesen sein.«
»Aber … Wo lebt er heute?«
»Diese Frage habe ich Ursula auch gestellt, aber sie konnte mir keine Antwort darauf geben.«
Mit dem Ansteigen des Meeres wurde der Wind kälter. Eine feuchte Brise strich über die Küste, von Ost nach West. Monsieur Anselme warf einen Blick auf die Uhr. Er rückte sein Tuch zurecht und stand auf.
Ich tat es ihm gleich.
»Was ist aus diesem Jungen geworden?«
»Er ist älter geworden, und eines Tages ist er weggegangen, ohne dass jemand wusste weshalb. Er wurde zum letzten Mal in der Nähe von Beaumont gesehen, mit einem Koffer in der Hand. Niemand weiß, wohin er gegangen ist. Er war siebzehn.«
»Er ist einfach so gegangen?«
»Ja.«
»Wusste er, dass Nan nicht seine leibliche Mutter war?«
»Natürlich wusste er es.«
Er klopfte seine Hose ab und strich die Falten seines Jacketts glatt. Ich konnte mir nicht erklären, warum man immer
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