Die Brandungswelle
gewesen zu sein. Noch weniger Schwester. Unfähig, Ehefrau zu sein. Unfähig, jemandem zu gehören. Von einem Mann oder einer Geschichte abzuhängen. Männer hatten mich geliebt, ich hatte immer die geliebt, die mich nicht liebten.
Bis zu dir.
»Ich liebe dich, Raphaël …«
»Ich liebe dich auch, Prinzessin.«
»Aber wir werden nie miteinander schlafen, du und ich?«
Er sah mich amüsiert an.
»Nie, Prinzessin.«
Ich nahm noch einen Zug. Er legte Musik auf. Nach einer Weile hatte ich das Gefühl, dass es in meinem Kopf schneite. Es schneite, und die Sonne schien durch die Flocken. Eine Sonne pro Flocke. Schon lange hatte ich keinen Schnee mehr gesehen. Es gefiel mir.
»Vom Gipfel des Nez de Voidries kann man bei klarem Wetter die englischen Inseln sehen …«
»Sei still.«
Er holte eine Decke aus dem Schrank und breitete sie über mir aus.
Hinter meinen Lidern strahlten weiter die Schneesonnen.
»Wenn es schneit, das wird schön …«, hörte ich mich murmeln.
L ili sagte, die Esel würden den ganzen Sommer bleiben und eines Tages unangekündigt wieder fortgehen.
Esel wie Vögel.
Wie das Kind, das Nan geliebt hatte und das fortgegangen war.
Es war Vollmond. Ich konnte nicht schlafen. Ich ging nach draußen. Das Meer war so hell wie am Tag. Ich lief am Strand entlang.
Ich hatte meine Tage. Seit einiger Zeit hatte ich meine Tage nicht mehr gehabt. Seit Monaten. Und nun hatte ich meine Tage. Seltsamerweise schenkte mir dieses Blut, das aus mir floss, Ruhe. Ich setzte mich auf einen Stein. Ich sah es in den Sand fließen. Sich ausbreiten.
Dieses Blut, das zurückkehrte, war das Dich-Vergessen, ich war nicht sicher, ob ich das wollte.
Dein Gesicht, dein Geruch, alles war in mich eingegangen, von deiner Haut in meine Poren. Wenn ich schwitze, dann immer noch mit deinem Schweiß. Wenn ich weine, dann mit deinen Tränen. Und wenn ich begehre?
Ich zog mich aus, tauchte ins Wasser ein – mit der schwarzen Nacht, dem Mond und dessen Glanz.
Das Wasser war kalt.
Niemand konnte wissen, dass ich hier war.
Dass jemand hier war.
Nicht einmal die Schiffe, die mit ihren Lichtern vorüberzogen. Ich schwamm. Eine Welle Salzwasser schwappte mir in den Mund. Ich spuckte sie aus. Ich hätte es schlucken können. Und noch mehr schlucken, bis ich dir gefolgt wäre. Man hätte mich nicht wiedergefunden. Oder erst nach sehr langer Zeit, ein unkenntlicher Körper, eine Handvoll Knochen. Ein paar Kleidungsstücke.
Die Stille der Griffue . Seit einiger Zeit empfing ich nicht mal Radio.
S eit Tagen war die Katze tot, aber die Kater blieben am Rand des Grabes sitzen. Théo sagte, dass sie dort schliefen und dass einer dem anderen nicht den Platz überlassen wollte.
Er rief sie. Brachte ihnen Futter, damit sie nicht verhungerten.
Er stellte den Teller zwischen sie und das Grab. Die Kater rührten das Fressen nicht an. Sie schnupperten nicht mal daran. Tagelang.
»Selbst um die Trauerzeit streiten sie sich.«
»Man müsste sie dort wegholen …«
»Das würde nichts nützen.«
»Man könnte sie einsperren«, sagte ich. »Nur für eine Weile. Sie voneinander trennen. In Venedig sperrt man Katzen in die Keller, damit sie die Ratten töten.«
Théo wandte sich ab.
»Wir sind hier nicht in Venedig.«
Er ging zum Haus, wich den Näpfen aus. Sein Bein zitterte. Seit seinem Sturz, war sein Körper noch zerbrechlicher.
»Ich habe Ihnen Brot, Milch und Schinken mitgebracht. Und Suppe. Lili sagt, Sie sollen sie auf dem Gasherd warm machen.«
Er klammerte sich an das Eisengeländer und ging die Stufen
hoch. Zwischendurch blieb er stehen, um Luft zu holen und zum Himmel zu sehen.
Er schaute zum Leuchtturm. Lange. Ich folgte seinem Blick.
»Haben Sie ihn ausgeschaltet?«, fragte ich, und ich sah, wie sich seine Hand am Geländer verkrampfte. Langsam wandte er sich von mir ab, das Gesicht im Schatten. Schließlich zeigte er zum Hof, zum Tor und sagte: »Ich halte Sie nicht zurück.« Dann öffnete er die Tür und verschwand im Haus. Ich folgte ihm, legte den Beutel auf den Tisch.
Wenn ich gehen würde, würde ich nicht wiederkommen.
Er hatte mir den Rücken zugewandt und kontrollierte das Feuer im Ofen. Ich setzte mich an den Tisch.
»Die Nester in Jobourg werden weniger«, sagte ich.
Er hob die gusseiserne Platte hoch und warf einen Kloben hinein. Dann stopfte er das Loch mit Zeitungspapier voll und zündete ein Streichholz an. Er wartete, bis sich das Feuer ausbreitete.
»Weniger Nester und weniger Küken
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