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Die Brandungswelle

Die Brandungswelle

Titel: Die Brandungswelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudie Gallay
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denen so wehtut, die uns am meisten lieben.
    Monsieur Anselme hatte sich gebückt, um den Sand abzuwischen, der an seinen Schuhen klebte. Als er sich aufrichtete, sah er mich an und sagte: »Er hieß Michel.« Er sagte es so, wie man ein Gespräch beendet. Trocken, fast scherzhaft. Michel …
    »Was ist los? Sie gucken so seltsam.«
    »Im Café hing ein Foto des Kindes, von dem Sie mir gerade erzählt haben. Es war auf dem Bauernhof.«
    Monsieur Anselme nickte.
    »Es wundert mich nicht, dass Nans Kind bei Théo auf dem
Hof war. Schließlich waren der Hof und die Zuflucht nicht sehr weit voneinander entfernt … Außerdem fühlen sich Kinder immer von Tieren angezogen, Waisenkinder sicher noch mehr als andere. Gehen wir zurück, das Wetter schlägt um.«
    Ich lief neben ihm her.
    »Dieser Junge ist weggegangen, und Sie sagen, er ist niemals zurückgekommen?«
    »Das sage nicht ich, das sagt Ursula. Sie sagt auch, dass die Zuflucht ein paar Monate, nachdem er gegangen ist, geschlossen wurde. Offenbar hatte sich Nan sehr verändert, aus einer fröhlichen und herzlichen Frau wurde die, die wir jetzt kennen.«
    Der Wind wurde schneidend. Wir beeilten uns.
    Auf dem Rückweg sprachen wir von diesem Kind und erfanden ihm tausend Schicksale. Seine Mutter hatte ihn in Tüchern zurückgelassen, die noch voller Blut waren. War er aufgebrochen, um sie zu finden?
    Bei den ersten Häusern hakte sich Monsieur Anselme bei mir unter.
    »Übrigens, an dem Tag, als Sie Ihre Croissants mit Nan geteilt haben, sind Sie in die Zuflucht gegangen. Was hofften Sie dort zu finden?«
    »Nichts … Geschlossene Gebäude ziehen mich an. Ich gehe gern hinein.«
    Er neigte den Kopf zur Seite.
    »Dennoch …«

I ch sah Max auf dem Deck seines Bootes, er war gerade dabei, die Schmetterlinge zu füttern, indem er in Honig getränkte Blumen zwischen die Gitterstäbe schob. Die ersten Schmetterlinge waren bereits gestorben, was ihn traurig stimmte. Er fing neue, und so hatte er immer um die zwanzig in seinem Käfig.
    In der Nacht waren die Esel im Hof herumgelaufen. Sie hatten die Abdrücke ihrer Hufe vor der Tür hinterlassen. Sie hatten aus den Eimern getrunken, das harte Brot und das Mehl gefressen, das Morgane eigentlich für das Pferd hingestellt hatte.
    Lambert saß in der Sonne, mit dem Rücken an der Mole. Ich war nicht erstaunt, ihn dort zu sehen. Sein Haus war immer noch nicht verkauft. Er schien es nicht eilig zu haben abzureisen. Ich wusste, dass man sehr lange so dasitzen konnte, die Augen aufs Meer gerichtet, ohne jemanden zu sehen. Ohne zu sprechen. Ohne auch nur zu denken. Am Ende erfüllt einen das Meer mit etwas, das einen stärker macht. Als ließe es uns ein Teil von ihm werden. Viele, die das erlebten, gingen nicht mehr weg.
    Ich wusste nicht, ob Lambert gehen würde.
    Ich wusste nicht, ob ich wollte, dass er blieb.
    Ich ließ ihn dort sitzen.
    Seit zwei Wochen beobachtete ich drei Kormoraneier, die die
Eltern abwechselnd ausbrüteten. Die Kleinen würden schlüpfen, es war eine Frage von Stunden. Höchstens noch zwei Tage. Manchmal zerbrachen die Küken ihre Schale nicht schnell genug, dann starben sie im Innern. Das hatte ich schon ein paar Mal beobachten können, dieses erbarmungslose Gesetz, das den Eltern jedoch gleichgültig zu sein schien.
    Als ich zu meiner Stelle kam, fischte das Männchen gerade zwischen den Felsen. Das Weibchen saß auf dem Nest. Ich wartete.
    Ein paar Basstölpel flogen vorbei, sie kamen von Aurigny.
    Die Männer vom Ornithologischen Zentrum hatten ihren Jeep am Wegrand geparkt. Ich wusste, dass sie heute da sein würden. Sie waren gekommen, um Nester mitzunehmen. Einer von ihnen seilte sich gerade an der Steilküste ab. Er holte zwei Nester und drei Eier. Vogelschreie und heftiges Schnabelklappern hallten an den Felsen wider.
    Viele Eier platzten, ohne dass man verstand weshalb. Im Zentrum sagten sie, es seien Parasiten im Innern. Sie wollten die Strahlungsstärke messen. Die Entnahmen des Vorjahres hatten nichts ergeben.
    »Hier kommen Wanderer vorbei«, sagte ich.
    »Es gibt doch Absperrungen.«
    »Die hindern sie nicht daran.«
    Ich galt allgemein als schweigsam. Denen im Zentrum war das egal, sie sagten, dass ich gut arbeitete und dass ich nicht bezahlt würde, um Reden zu halten.
    Der Gruppenleiter notierte das Problem mit den Wanderern in sein Heft. Er sagte, dass er für die Sommerzeit Wachen schicken werde.
    »Und Théo, wie geht es dem?«, fragte er mich.
    »Gut.«
    »Immer noch mit seinen

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