Die braune Rose
Kommissar sah kurz in das Vernehmungsprotokoll. »Wollte angeblich die Mutter suchen.« Er sah kurz zu Marianne. Sie war rot geworden und biß die Zähne aufeinander. Jetzt wird sie rot, dachte er in einer plötzlich aufkommenden Giftigkeit. Er hob den Hörer ab. »Lassen Sie das Mädchen vorführen.«
»Nein. Bitte nein. Noch nicht!« rief Marianne und klammerte sich an der Schreibtischkante fest. »Sie weiß nicht, daß ich … daß ich … Sie hat mich nie gesehen … Sollte man sie nicht vorher …«
»Warum?« Der Kommissar sah Marianne spöttisch an. »Das Wiedersehen mit einer Mutter ist doch immer ein freudiges Erlebnis.«
»Wie … wie spricht sie von mir?«
»Überhaupt nicht.« Hauptwachtmeister Schmitz trat vor. Es waren drei Schritte, mehr nicht, aber sie fielen ihm schwer, als habe er Blei an den Füßen, bis hinauf zu den Kniekehlen. »›Sie will mich nicht‹, hat sie zu mir gesagt. ›Gut, dann will ich sie auch nicht mehr. Ich möchte zurück ins Heim.‹«
Marianne sank auf einen Stuhl, der vor dem Schreibtisch stand. Sie schlug die Hände vors Gesicht und saß so eine ganze Zeit, stumm, lautlos, wie erstarrt.
Es klopfte. Eine Wachtmeisterin trat ein. Ihr folgte Harriet-Rose. Das Kopftuch mit der Bodenseelandschaft hielt sie wieder in den Händen und zerknüllte es. Ihr braunes Gesichtchen war fahl, übernächtigt. Sie hat geweint, dachte Schmitz und rang hinter seinem Rücken die Hände. Ihre Augen sind wie gestorben. Und wie können sie glänzen.
»Aha! Da sind Sie«, sagte der Kommissar.
Harriet-Rose sah zunächst nur Erna Selpach. Dann ging ihr Blick zu der ihr fremden, jüngeren Frau. Sie musterte sie. Unbekannt, sagte dieser Blick. Eine neue Pflegerin. Oder eine neue Heimleiterin. Bestimmt komme ich jetzt in ein anderes Haus. In ein Strafhaus. Mit vergitterten Fenstern.
Harriet-Rose trat langsam auf Erna Selpach zu.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte sie mit ihrer sanften, singenden Stimme. »Ich weiß, daß alles unrecht war. Ich habe Ihnen soviel Sorgen gemacht … ich will es auch nie wieder tun. Ich will nie mehr aus dem Heim heraus. Nie mehr!« Die letzten Worte klangen wie ein unterdrückter Schrei. »Ich war dumm«, sagte sie dann leiser. »Ich habe mir die Welt ganz anders vorgestellt.«
»Ist sie das?« fragte der Kommissar überflüssig. Aber es gehörte zu dem Geschäftsvorgang der Identifizierung. »Bitte, unterschreiben Sie die Übernahme. Von jetzt ab haften wieder Sie für das Mädchen.«
Erna Selpach beugte sich über das Formular und unterschrieb. Währenddessen sahen sich Rose und Marianne an.
Mein Kind, dachte Marianne. Wie groß sie geworden ist, wie schön, wie erwachsen. Sie sieht Harry Bob Shirer gar nicht ähnlich, soweit sie sich noch an Bob erinnern konnte. Er hatte ein breites, gutmütiges, schwarzes Gesicht. Auch die Haare hatte sie nicht von ihm. Er hatte eng gedrehte, wollige Locken.
»Wer sind Sie?« fragte Harriet-Rose. Ihre Stimme war erstaunlich hart und klar. Nichts war mehr in ihr von dem singenden, warmen Klang. »Ich kenne Sie nicht.«
»Ich bin … ich bin Marianne Koeberle«, sagte Marianne. Es kostete sie eine ungeheure körperliche Kraft, überhaupt diese Worte deutlich zu sagen. Ich muß auf sie zustürzen, dachte sie. Ich muß sie an mich drücken, sie küssen, sie wegtragen aus diesem nüchternen Amtszimmer, weg aus diesen anklagenden Augen, weg von den Uniformen.
»Sie kommen aus Konstanz? Soll ich jetzt zu Ihnen kommen?«
Hilflos sah Marianne zu Erna Selpach. Hilfe, schrie ihr Blick. So helft mir doch. Ich kann ihr doch nicht sagen: Ich bin deine Mutter. Ich bringe es einfach nicht fertig.
»Ja.« Frau Selpach nahm Harriet-Rose das Kopftuch aus den Händen. Sie war dabei, es zu zerfetzen.
»In ein anderes Heim?«
»Nein. Privat.«
»Zu Ihnen?« Rose sah wieder Marianne an. Ihr Kopf war aufgerichtet, der Nacken steif. »Ich möchte nicht zu Ihnen. Ich will zurück ins Heim.«
»Aber warum denn, Rose?« sagte Frau Selpach sanft.
»Ich will nicht bei dieser Frau leben. Sie sieht mich so merkwürdig an … ich fürchte mich vor ihr.«
Mariannes Herzschlag setzte einen Augenblick aus. Jetzt sterbe ich, dachte sie, und fast war sie glücklich bei diesem Gedanken. Mein Herz bricht auseinander … jetzt werde ich gleich fallen … und fallen … fallen … und alles wird vorbei sein. Aber der Herzschlag setzte wieder ein, und sie fiel nicht um, sondern umklammerte die Stuhllehne.
»So ein dummes Gerede«, sagte Schmitz laut.
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