Die Braut des Normannen
Justin schicken?«
»Ich schicke Justin nirgendwo hin.«
»In diesem Fall wird Thurston doch hier auftauchen und Justin holen.«
»Ja«, bestätigte er ohne weitere Erklärungen.
Nichola beugte sich zu ihm. »Ulric hätte hierbleiben können ...« Sie brach ab, als er den Kopf schüttelte. »Ich verstehe das alles nicht«, murmelte sie nach einer Weile.
»Justin ist ein Mann, Nichola – er trifft seine eigenen Entscheidungen. Aber Ulric ist noch ein kleines Kind. Ich konnte nicht zulassen, daß er zum Zankapfel wird.«
»Aber Justin ist auch hilflos wie ein Kind«, wandte Nichola ein.
»Das ist er nicht«, widersprach er. »Er ist zwar geschwächt, aber er erholt sich mit jedem Tag mehr – sowohl körperlich als auch geistig.«
»Und was ist, wenn Thurston herkommt, bevor seine Kräfte wieder ganz hergestellt sind?«
»Justin wird nicht mit ihm fortgehen.«
Royce verschwieg, daß Justins Wille dabei gar keine Rolle spielte, Er würde niemals zulassen, daß Nicholas Bruder die Festung verließ, ehe der Junge so stark und gesund war, daß er ohne Hilfe überleben konnte.
»Hat er Fortschritte gemacht seit dem ersten Tag?« fragte Nichola und gab sich Mühe, dabei nicht allzu neugierig zu erscheinen.
»Ja.«
»Also läuft alles so ab, wie du es geplant hast?«
»Ja.«
Sie seufzte. »Dann mußt du Justin nicht mehr mit Füßen treten?«
Royce lächelte. Endlich kam seine Frau auf den Punkt zu sprechen, der sie schon so lange beschäftigte.
»Antworte mir, bitte«, sagte sie. »Versetzt du Justin noch immer Fußtritte?«
Royce ignorierte ihren gereizten Ton und sagte: »Nur, wenn ich es für nötig halte.«
Nichola wollte aufspringen, aber er hielt sie auf seinem Schoß fest. »Du hättest diese Begegnung wirklich nicht beobachten sollen.«
»Lawrence hat es dir erzählt, stimmt's?« fragte sie entrüstet.
»Das war kein Verrat, Nichola. Lawrence ist verpflichtet, mir über solche Vorkommnisse Bericht zu erstatten. Außerdem hätte ein Blick in dein Gesicht genügt, und ich hätte gewußt, daß du alles mitangesehen hast.«
»Es war mein Recht, zuzuschauen«, behauptete sie. »Justin ist schließlich mein Bruder.«
»Diese Tatsache ist nicht so wichtig wie seine Beziehung zu mir.«
»Aber er ist doch nur dein Schwager«, rief Nichola aus.
»Er ist auch mein Gefolgsmann«, erklärte Royce geduldig. »Diese Bindung ist weit bedeutender, das verstehst du sicher.«
Sie verstand gar nichts mehr. Die ganze Welt war auf den Kopf gestellt, seit die Normannen die Herrschaft übernommen hatten. König William hatte ein strenges Herrschaftssystem eingefühlt, in dem jeder einen bestimmten Platz einnahm und spezielle Pflichten zu erfüllen hatte – ja, vom niedrigsten Diener bis zum höchsten Adligen hatte jeder seinen Platz in diesem Reich. Jeder, bis auf Nichola – zumindest kam es ihr so vor. Sie paßte nicht in dieses neue System. Plötzlich übermannte sie die Angst so sehr, daß sie anfing zu zittern. Vor langer Zeit war sie für so vieles verantwortlich gewesen, aber jetzt nahm ihr Royce eine Aufgabe nach der anderen aus der Hand. Sie hatte geschworen, ihre Familie auf jede nur mögliche Art zu beschützen, und sie hatte ernsthaft daran geglaubt, daß Justin und Ulric sie brauchten, um in Sicherheit leben zu können. Jetzt war Ulric weg, und bald würde auch Justin sie verlassen. Wenn ihr Bruder seine Kampfausbildung absolviert hatte, würde er seiner eigenen Wege in dieser komplizierten Welt gehen. Justin brauchte sie schon jetzt nicht mehr – nein, er war auf Royce angewiesen, der ihm half, wieder stark und widerstandsfähig zu werden.
Niemand brauchte sie. Die Festung gehörte Royce, und die Bediensteten unterstanden seinem Befehl. Sie hatten schon hinreichend bewiesen, daß sie Royce treu ergeben waren. Das ist nur recht und billig, ermahnte sie sich selbst. Schließlich war er jetzt der Herr im Hause – aber was war aus ihr geworden?
Nichola war nicht in der Lage, das Selbstmitleid vollends abzuschütteln, das sie zu ersticken drohte. Sie seufzte und stand auf, um sich für die Nacht vorzubereiten. Sie bemerkte kaum, daß Royce sich ebenfalls auszog.
Verdammt, sie haßte es, sich selbst so zu bedauern, aber es war ihr unmöglich, diese Empfindung zu unterdrücken. Sie fühlte sich so leer – und schuldig. Sie selbst hatte Royce zu dieser Ehe gezwungen, und er machte aus den gegebenen Umständen das Beste.
Nichola stand in ihrem weißen, dünnen Hemd neben dem Bett und dachte über ihr
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