Die Braut des Piraten
Der Einschnitt setzte sich hinter dem Schiff fort und verengte sich weiter.
Die Ruderer brachten das Boot an den Schiffsrumpf heran, und Mike knotete es mit einem Seil an einem Ring am Heck fest. Olivia blickte hinauf und sah Anthony, der sich am Ende der Strickleiter über die Reling beugte. »Bleib, wo du bist, Olivia«, rief er ihr zu.
»Ich komme hinauf«, erwiderte sie. Die Augenbinde festhaltend, ergriff sie Mikes ausgestreckte Hand und fasste nach der Leiter, die beim Klettern so beängstigend ins Schwingen geriet, dass Olivia sich in Erinnerung rufen musste, dass sie hoch über der gähnenden offenen See ein Enternetz überwunden hatte. Sie war froh, dass ihr die Breeches das Klettern erleichterten.
Anthony bot ihr seine Hand, sie aber verschmähte seine Hilfe und schwang sich leichtfüßig über die Reling. Als Zeichen ihres Zorns schlug sie ihm mit der Augenbinde ins Gesicht und traf geräuschvoll seine Wange.
Anthony entwand ihr grinsend das Tuch. »Das hat dich wohl erbittert?« Es hörte sich befriedigt an.
»Wie du mir, so ich dir?«, fragte sie.
»Genau.« Seine Augen leuchteten.
»Spielen wir Schach?«
»Warum sonst die große Mühe, mir eine Nachricht zukommen zu lassen?«, spottete er. »Wenn du zurück ins Boot kletterst, können wir uns auf den Weg machen.«
»Wohin?« Olivia ärgerte sich, dass ihre Frage erschrocken klang.
»Abwarten, meine Blume, du wirst schon sehen.« Nach wie vor lag das Leuchten in seinen Augen.
Wortlos schwang Olivia sich abermals über die Reling, kletterte die Leiter hinunter und stieg ins Boot.
»Ich wäre an deiner Stelle auf der Hut«, murmelte Adam, als Anthony sich neben ihm über die Bordwand beugte.
Anthony betrachtete die Insassin des Bootes, als gelte es, das Temperament einer unberechenbaren Katze abzuschätzen. »Du magst Recht haben. Aber ich bin ihr gewachsen.«
»Kommst du nun oder nicht?«, rief Olivia ungeduldig.
Anthony bedachte Adam mit einem Grinsen. »Möglicherweise auch nicht.« Nun schwang er sich über die Reling und kletterte hinunter ins Boot.
Leise pfeifend langte er hinauf und löste die Vorleine vom Ring. Er setzte sich und griff nach den Rudern, wobei er eines benutzte, um das Boot vom Schiffsrumpf abzustoßen. Noch immer vor sich hinpfeifend, ruderte er kraftvoll tiefer in die Klippenschlucht hinein.
»Wohin fahren wir?« Olivia starrte über seine Schulter. Es sah aus, als würden sie an der schmälsten Stelle in der Wand des Kliffs verschwinden.
»Abwarten«, lautete seine Ärgernis erregende Antwort.
Just als sie gegen die Felswand am entferntesten Punkt der Schlucht zu stoßen schienen, ließ Anthony die Ruder ruhen und betrachtete Olivia nachdenklich.
»Wie hast du das Geheimnis der Betsäule entdeckt?«
»Eine Frage für eine andere«, wich sie aus und faltete die Hände im Schoß.
»Los.«
»Hast du die Absicht, den König zu befreien?«
Er ließ sich mit der Antwort Zeit und pfiff wie gewohnt durch die Zähne, den Blick auf das ankernde Schiff hinter ihr gerichtet.
»Was ist, wenn es so wäre?«, fragte er schließlich.
Olivia zuckte die Achseln. »Nichts«, sagte sie. »Aber ich bin keine Närrin und möchte nicht wie eine behandelt werden.«
»Glaube mir, das tat ich nie«, sagte er mit Entschiedenheit.
»Also, hast du die Absicht? Spielst du bei Hof deswegen den geistlosen Schmeichler, damit niemand ernsthaft Notiz von dir nimmt und man gar nicht auf die Idee kommt, du wärest im Stande, auch nur eine Klippenwanderung zu planen?«
Anthony lachte leise. »Ich bin sicher, dass niemand mein kleines Spiel durchschaut.«
»Natürlich nicht. Ich durchschaue es nur, weil ich dich kenne.«
»Ach?« Er stützte sich auf seine Ruder und musterte sie im dämmrigen Licht der Schlucht scharf.
»Ich weiß, was du bist … oder zumindest, was du nicht bist«, berichtigte sie sich.
»Also, wie bist du hinter die Sache mit der Betsäule gekommen?«
»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
»Ich denke schon.«
Sie nahm an, dass das Ausbleiben einer Verneinung eine Bejahung bedeutete. »Ein kleiner Junge war vor Freude über sein Spielzeugschiff so außer sich, dass ihm beim Spielen so einiges entschlüpfte.«
»Ach, einer der Barker-Jungen.« Er griff wieder nach den Rudern. »Ein ständiges Risiko, aber eines, das sich in Grenzen hält.« Er sah sie mit gefurchter Stirn an. »Also, was hält Lord Granvilles Tochter von dieser Sache?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Olivia. »Ich habe sie nicht
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