Die Braut des Shawnee-Kriegers
jetzt den Tod wählte, könnte er sich all das ersparen.
Während Wolf Heart zögerte, geschockt von dem niederschmetternden Erlebnis, schoss ihm eine neue Frage durch den Kopf. Wo war sein Leitbild? Weder in seiner Vision noch im Laufe der vergangenen vier Tage war ein Wolf erschienen. Selbst die Stimme des Wolfs, die ihn hergerufen hatte, schwieg beharrlich. Seit der Nacht, als er Clarissa auf den Armen nach Haus getragen hatte, hatte er dessen Ruf nicht mehr gehört.
Er hatte sich auf die Suche gemacht, um Antwort auf seine persönlichen Fragen zu bekommen. Weshalb hatte er stattdessen eine so gewaltige und so furchtbare Vision gehabt, dass er alles dafür geben würde, um sie aus seinem Gedächtnis zu löschen? Und warum blieben seine eigenen Fragen unbeantwortet?
Plötzlich wusste er es.
Die Vision war die Antwort. Er wusste jetzt, wie seine Zukunft aussehen würde, wenn er sich entschloss, das Schicksal der Shawnee zu teilen. Ihm war klar, wie er sich entscheiden würde. Er war ein Shawnee-Krieger, und was immer die Zukunft auch bringen mochte, sein Platz war bei seinem Volk. Doch er durfte Clarissa nicht bitten, dieses Grauen um seinetwillen auf sich zu nehmen.
Sein Volk. Das war Wolf Hearts letzter Gedanke, bevor er in seinen verletzten Körper zurückkehrte und in tiefe Bewusstlosigkeit versank.
Ruckartig fuhr Clarissa in der Dunkelheit der Hütte hoch. Das blasse Licht, das durch die Spalten des Rindendachs fiel, verriet ihr, dass die Dämmerung kaum angebrochen war. Swan Feather, die eine eingefleischte Frühaufsteherin war, lag zusammengerollt wie ein Kind unter ihrer Bärenfelldecke und schnarchte leise. Die letzten Reste des Feuers vom Vortag glommen in der geschwärzten Feuerstelle.
Es war alles in bester Ordnung, sie sah es selbst. Wieso raste ihr Herz dann wie das eines verfolgten Rehs? Erschöpft nach einem aufreibenden Tag, hatte sie tief und traumlos geschlafen. Gewöhnlich schlief sie fest, bis Swan Feather sie bei Sonnenaufgang weckte. Irgendetwas hatte sie aufgeschreckt. Was war es?
Eine innere Unruhe ließ sie nicht wieder einschlafen. Sie tastete nach ihren Mokassins, schlich leise durch die Hütte und schlüpfte hinaus in die Morgendämmerung. Am kaum erhellten Himmel im Westen hing der blasse Mond tief über den Bäumen. Nur wenige Vögel hatten bisher zaghaft ihren Morgengesang angestimmt, die meisten schliefen wohl noch wie die Menschen im Dorf. Heute war der fünfte Tag, seitdem Wolf Heart sie verlassen hatte.
Es war Cat Follower gewesen, der ihr schließlich erklärt hatte, was es mit einer Visionssuche auf sich hatte. Mit einfachen Worten hatte er versucht, ihr alles zu beschreiben: Das Martyrium des Fastens und der Abgeschiedenheit … wobei die Einsamkeit noch schlimmer wog als der Hunger, weil die Shawnee ein besonders geselliges Volk waren. Vier Tage, hatte er gesagt, und dann kann der Suchende in Ehren zurückkehren.
Vier Tage. Clarissa hatte jeden Herzschlag gezählt, und plötzlich wusste sie, was sie geweckt hatte.
Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, machte sie sich auf den Weg, der zu Wolf Hearts einsamer Hütte führte. Unterwegs stellte sie sich vor, wie sie sie erreichen und vor dem Eingang stehen bleiben würde, um Luft zu schöpfen. Dann würde sie einen Zipfel der Türklappe anheben, um einen kleinen Lichtschein in die Hütte fallen zu lassen. Sie würde ihn auf seinem Bett sehen, wie er in tiefem Schlaf alle Glieder von sich streckte, seine breite Brust und die langen Beine, erschöpft von viertägigem Fasten. Mit angehaltenem Atem, um seinen Schlaf nicht zu stören, würde sie seinen Anblick so lange in sich aufnehmen, wie sie nur konnte. Entgegen aller Vernunft hüpfte ihr Herz vor Vorfreude.
Doch als sie die Hütte erreichte, stand diese still und verlassen in der Dämmerung. Kein Rauch kräuselte sich durch das Abzugsloch im Dach. Nichts hatte sich verändert, seit Wolf Heart fort war.
Ein Knoten bildete sich in ihrem Magen, und Angst stieg in ihr auf. Sie schlich näher und hob die Rehlederklappe an, die vor dem Eingang hing. Inzwischen wusste sie, dass er nicht da war. Nicht das leiseste Geräusch kam aus der dunklen Hütte, und Clarissa vermisste die Aura ungezähmter Kraft, die Wolf Heart auf Schritt und Tritt umgab. Sie hob die Lederklappe ganz an und trat beiseite, um das Dämmerlicht ungehindert ins Innere der Hütte fallen zu lassen.
Ihr neugieriger Blick umfasste das zerwühlte Lager, den langen Hickorybogen und den befransten
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