Die Braut des Vagabunden
werden voll sein“, widersprach Temperance, obwohl sie sich danach sehnte, sich hinzulegen und die Augen zu schließen.
„Irgendwo werden wir etwas finden“, sagte Jack.
4. KAPITEL
Temperance öffnete die Augen. Das Herz hämmerte heftig in ihrer Brust, ihre Glieder bebten noch vor Furcht. Jetzt, da sie erwacht war, schien das Entsetzen beinah größer als während des Albtraums, in dem sie von ihrem brennenden Haus geträumt hatte. Das Ganze war ihr so wirklich erschienen, dass sie beinahe erwartete, jeden Moment von den Flammen verschluckt zu werden.
„Ruhig, meine Schöne“, murmelte hinter ihr eine sanfte Stimme.
Sie fühlte eine beruhigende Hand an ihrem Arm, aber es dauerte einige entsetzlich lange Augenblicke, bis sie die Reste des Albtraums abgeschüttelt hatte. Allmählich erinnerte sie sich, mit wem sie zusammen war, wo sie sich befanden und was sie an diesen Ort geführt hatte.
Sie waren in einem winzigen Raum, kaum größer als ein Schrank, in einem Gasthaus in Southwark. Das Bett war schmal und die Matratze klumpig. Wenn Temperance geradeaus blickte, sah sie nichts als den schmutzigen Verputz gleich vor ihrer Nase. Sie vermutete, dass Jack neben ihr lag, nur da sie den Kopf in die andere Richtung gedreht hatte, konnte sie ihn nicht sehen.
Noch immer strich er leicht über ihren Oberarm und sprach leise auf sie ein. Offenbar hatte er gespürt, dass sie einen Albtraum hatte.
Sie holte tief Atem und musste husten. Jack half ihr, sich aufzurichten. Sie lehnte sich an ihn, während sie versuchte, den Anfall zu überwinden. Schließlich war sie in der Lage, ruhig dazusitzen, und lehnte den Kopf an Jacks Schulter, zu bekümmert um sich darum zu scheren, ob sich das ziemte.
„Habt Ihr von dem Feuer geträumt?“, fragte er.
Sie nickte heftig und begann zu weinen. Von dem Augenblick an, da sie bemerkt hatte, dass Agnes im Laden zurückgeblieben war, war keine Zeit mehr gewesen, um über das Schicksal ihres Zuhauses nachzudenken. Jetzt wusste sie, dass sie im Traum die exakte Wahrheit gesehen hatte. Sie hatte nicht auf der Treppe gestanden, als ihre Schlafkammer Feuer gefangen hatte, aber dass diese inzwischen verbrannt war, daran bestand kein Zweifel.
„Es tut mir leid, Liebchen. Es tut mir leid“, murmelte Jack.
Sie nickte, denn sprechen konnte sie nicht. Für den Augenblick war ihr Kummer so überwältigend, dass sie ihn nicht beherrschen konnte. Zum ersten Mal seit dem Tod ihres Vaters gab es jemanden, der sie trösten konnte. Hilflos klammerte sie sich an Jack und gab sich in ganz untypischer Weise ihren Gefühlen hin. Sie war dazu erzogen worden, mehr Selbstdisziplin zu zeigen, aber Jack schien nicht schockiert zu sein. In seinen starken, sicheren Armen hielt er sie fest. Er förderte sogar ein rußverschmiertes Taschentuch zutage, das er ihr anbot.
Ein Fenster ging auf die Themse hinaus. Das Inferno am anderen Ufer warf ein zuckendes Licht auf das Bett. Temperance hielt den Kopf vom Fenster abgewandt, doch der Anblick des Taschentuchs verursachte ihr einen Lachanfall.
„Ich habe selbst eines“, sagte sie. „Ich bin eine Tuchhändlerin.“
Sie löste sich von Jack und vermisste sofort das Gefühl der Sicherheit, das sie in seinen Armen empfunden hatte. Es war eine große Versuchung, sich wieder an ihn zu lehnen, doch sie setzte sich gerade hin und konzentrierte sich darauf, ihr Taschentuch zu finden. Schließlich zog sie das Leinentuch hervor, trocknete ihre Augen und schnäuzte sich. Hin und wieder musste sie zwar noch ein Schluchzen unterdrücken, aber sie fühlte sich jetzt ruhiger.
„Danke“, sagte sie.
„Wofür?“ Jack schien ein wenig belustigt. „Ihr habt mir meine höfliche Geste verdorben.“
„Für …“ Sie zögerte. „Egal“, sagte sie dann und wollte nicht darüber reden, wie sie die Selbstbeherrschung verloren hatte. „Ein Mann mit Eurer vielschichtigen Vergangenheit findet sich bestimmt häufiger in ungewöhnlichen Situationen wieder. Vermutlich sind weinende Frauen in Eurem Leben nichts Ungewöhnliches.“
Zu ihrer Überraschung brach Jack in Gelächter aus. „Wenn alles andere versagt, dann steche ich sie mit Nadeln“, sagte er. „Frisch geschnittene Zwiebeln allerdings …“
„Das meinte ich nicht“, unterbrach ihn Temperance verärgert.
„Es kam schon vor“, sagte er, jetzt ernsthafter, als sie es erwartet hatte. „Aber ich hoffe, dass ich jetzt klüger – und freundlicher – bin.“
„Jetzt …?“ Temperance stockte bei seinen Worten
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