Die Braut des Vagabunden
für einen Moment der Atem. „Jetzt wartet jemand auf Euch?“ Sie wusste so wenig über Jack Bow, doch in den letzten paar Tagen hatte er für sie so viel an Bedeutung gewonnen. War sie nur ein Zwischenspiel in seinem Leben?
„Nein …“ Jack hielt inne. „Auf mich wartet keine Frau“, erklärte er.
„Oh.“ Temperance drehte das Taschentuch zwischen den Fingern und wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Als sie im Gasthaus ankamen, war sie so erschöpft gewesen, dass sie einfach ins Bett gefallen war, ohne darauf zu achten, ob Jack sich neben ihr befand. Einige Stunden hatte sie tief und fest geschlafen, aber nun war sie wach, und ihr Verstand begann, in alle möglichen Richtungen zu arbeiten. Dabei war die Tatsache, dass Jack auf ihrem Bett saß, nur eines ihrer Probleme.
Sie hob den Kopf und blickte unbeabsichtigt zum Fenster hinüber. Bei dem unheilvollen Spiel von Licht und Schatten verkrampfte sich ihr Innerstes.
„Es brennt noch immer.“ Sie rückte ein Stück weit vor, um besser sehen zu können. „Was soll ich nur tun?“, flüsterte sie und klammerte sich am Fenstersims fest. „Alles ist fort. Was werden wir alle tun? London ist fort!“
„Wieder aufbauen“, sagte Jack und rückte zum Fußende des Bettes, sodass er neben ihr saß.
„Das sagt Ihr so leicht!“ Temperance drehte sich zu ihm um. „Ihr bleibt nie irgendwo. Ihr geht einfach dorthin, wo es Euch gefällt …“ Ein Schluchzen unterbrach sie.
Jack legte seinen Arm um sie. Einen Moment lang wehrte sie sich dagegen, wollte sich nicht von ihm trösten lassen, wenn das Schicksal der Stadt ihn so unberührt ließ.
„Ich habe wegen anderer Verluste geweint“, sagte er. „Menschen – keine Orte.“
Sie spürte, dass er die Wahrheit sagte, und wehrte sich nicht länger gegen seine Umarmung.
„Ich weiß nicht, was ich tun soll“, brachte sie heraus.
„Ihr werdet es schaffen.“ Einen Moment lang lehnte er seine Stirn an ihre. „Aber nicht mehr heute Nacht. Heute Nacht müsst Ihr überhaupt nichts mehr schaffen. Kommt.“ Er zog sie zurück aufs Bett. „Legt Euch hin. Ruht Euch aus. Morgen früh werden wir uns den nächsten Problemen zuwenden.“
Temperance ließ sich auf den Rücken sinken und blickte nach oben. Dann stöhnte sie auf und rollte sich auf die Seite.
„Ich kann jetzt nicht schlafen.“ Sie biss sich auf die Lippen, fest entschlossen, nicht mehr zu weinen. „Jedes Mal, wenn ich meine Augen schließe, sehe ich es vor mir.“
„Denkt an etwas anderes.“ Er streichelte ihren Arm.
„Ich weiß nichts anderes.“
„Was?“
„Ich bin nie an einem anderen Ort als in London gewesen. London ist in all meinen Erinnerungen. Erzählt mir von etwas anderem.“ Sie legte eine Hand auf seine Schulter. Er hatte seinen Überrock abgelegt, sodass sie unter dem Leinenhemd seine Muskeln spürte. „Ihr seid an vielen Orten gewesen. Erzählt mir davon.“
„Mein Heim ist in Sussex“, sagte er nach einer Weile. „Soll ich Euch davon erzählen?“
„Ja.“ Sie fragte sich, ob er an sein Zuhause dachte, weil sie ihres verloren hatte. „Bitte erzählt mir davon.“
„Es ist grün“, sagte er. „Ich sah es zuletzt im April, und alles war grün. Neue Triebe und Blätter. Unter den Bäumen bietet der Löwenzahn einen herrlichen Anblick. Lauter Sonnengelb.“
„Gute Farben“, flüsterte Temperance und klammerte sich an das Bild des sonnengelben Löwenzahns, um nicht an das Rot und Schwarz des zerstörerischen Feuers denken zu müssen.
„Sehr gute.“ Mit den Lippen streifte er ihre Stirn. „Das Dorf stand in voller Blüte.“
„Welches Dorf?“ Temperance rückte ein wenig näher zu ihm.
„Arunhurst“, gab er zurück. „Die Kirche ist ganz hübsch. Normannisch.“ Er küsste sie auf die Wange.
„Welche Kirche?“ Ihre Hand schien einen eigenen Willen zu haben, als sie sich um seine Taille legte.
„St. Mary’s.“ Sein Atem streifte ihre Haut.
Sie wandte den Kopf, und seine Lippen berührten ihren Mund. Zuerst war der Kuss sanft und tröstlich, aber fast sofort entstand wilde Leidenschaft zwischen ihnen. Sie packte den Stoff seines Hemdes und zog ihn näher, reagierte auf ihn, ohne an die Folgen zu denken. Ihre ganze Welt war zusammengebrochen, allein Jack schien stark und beruhigend lebendig. Er war da.
Im nächsten Moment drehte er sie auf den Rücken und küsste sie leidenschaftlicher. Seine Zunge war so kühn, nie zuvor hatte sie etwas Vergleichbares erlebt. Erregung erwachte in ihr. Sie hob
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