Die Braut des Vagabunden
an ihrem Finger und fragte sich, was das bedeutete. Natürlich wollte er den Ring zurück, aber was wollte er ihr später sonst noch sagen?
Trotz all ihrer Bemühungen fühlte sie ein Schluchzen in ihrer Kehle. Sie presste eine Hand vor den Mund, eine nutzlose Geste, um ihre Gefühle unter Kontrolle zu bringen.
„Verzeiht mir, Euer Gnaden.“ Ohne sich darum zu kümmern, ob das schicklich war, machte sie kehrt und floh in ihr Gemach.
Jack fand sich in der langen Galerie wieder, ohne recht zu wissen, wie er dorthin gelangt war, und der Abdruck von Temperances Hand brannte zwischen seinen Schulterblättern. So deutlich spürte er noch ihre Berührung, dass er beinahe versucht war, seinen Überrock auszuziehen und nachzusehen, ob sie ein sichtbares Zeichen hinterlassen hatte.
Er war es nicht gewohnt, irgendwo hingeschickt zu werden. Er war schon im Begriff, in das Zimmer zurückzugehen und das Gespräch mit seiner angeblichen Gemahlin zu Ende zu führen, als er daran dachte, wie aufmerksam seine Mutter sie beobachtet hatte – nicht zu erwähnen die Diener mit ihren undurchdringlichen Mienen, die ihn nicht aus den Augen ließen. Daher nickte er Hinchcliff kurz zu und ging dann hinauf in den zweiten Stock.
Wie er gehofft hatte, war die Nachricht von seiner Ankunft noch nicht bis zu diesem Teil des Hauses vorgedrungen. Als er die Tür zur Kinderstube öffnete, sah Dr. Nichols auf, der Beichtvater der Duchess und Tobys Lehrer, doch Jack legte einen Finger an seine Lippen und bedeutete dem Kaplan zu schweigen.
Unbemerkt beobachtete Jack seinen Sohn. Mit gesenktem Kopf saß Toby am Tisch und konzentrierte sich auf das Bild, das er malte. Seine Hände waren über und über mit Kohle bedeckt, und auf seiner Wange zeigte sich ein schwarzer Strich. Obwohl er an Temperance dachte, lächelte Jack bei diesem Anblick. Seit er England im April verlassen hatte, hatte er in seinem Herzen gespürt, wie sehr der Junge ihm fehlte. Jetzt ließ dieser bohrende Schmerz nach.
Er schloss die Tür und trat weiter ins Zimmer, gerade als Toby aufsah.
„Papa!“ Ein freudiger Ausdruck erschien im Gesicht des Jungen, so strahlend, dass Jack einen Moment lang nicht sprechen konnte, weil er einen dicken Kloß in seiner Kehle spürte.
„Ich bin zu Hause“, sagte er und streckte die Arme aus, als Toby aufsprang.
Doch plötzlich veränderte sich die Miene des Jungen. Das strahlende Lächeln verschwand, und seine Miene wurde finster. Statt auf Jack zuzugehen, zog er sich zu einer Fensterbank am anderen Ende des Zimmers zurück. Die unerwartete Zurückweisung schmerzte so sehr, dass Jack kaum zu atmen vermochte.
„Toby?“ Er ließ die Arme sinken. Er konnte dem Jungen nicht befehlen, über seine Rückkehr glücklich zu sein.
Toby zog die Knie an, schlang die Arme darum und wandte eigensinnig den Kopf ab.
Dr. Nichols wollte etwas sagen, mit einem Stirnrunzeln brachte Jack ihn indes zum Schweigen. Er wartete, bis der Kaplan das Zimmer verlassen hatte, dann begann er wieder zu sprechen.
„Toby? Was ist denn?“
Ärgerlich zuckte Toby die Achseln und wollte ihn nicht ansehen.
„Steh auf und benimm dich!“, verlangte Jack in scharfem Ton.
„Du hast mich belogen!“ Toby fuhr herum und sah seinen Vater an. Zorn und Verachtung blitzten aus seinen Augen. „Du hast versprochen, nicht lange fortzubleiben, aber seit deiner Abreise sind Jahre vergangen! Du hast dein Versprechen gebrochen! Ich hasse dich.“ Er drehte sich weg und sah zum Fenster hinaus.
Verblüfft starrte Jack Tobys Hinterkopf an. Wie konnte ein Kind, das von ihm abstammte, das ein Teil von ihm war, einen so starken, unerschütterlichen eigenen Willen haben?
Er setzte sich an das andere Ende der Fensterbank und blickte hinaus auf die graue Novemberlandschaft. Diesen Ausblick hatte er das letzte Mal im April genossen. Er war nicht jahrelang fort gewesen, aber gemessen an der Lebensspanne eines kleinen Jungen war es eine lange Zeit.
„Ich habe dir viele Briefe geschrieben“, erinnerte er Toby. „Sogar aus Venedig habe ich dir einen Brief geschickt, mit der Zeichnung einer Gondel. Hast du den Brief bekommen?“
Toby zögerte und nickte dann widerstrebend.
„Gut“, sagte Jack. „Ich war besonders stolz auf meine Zeichnung. Deswegen bin ich froh, dass sie nicht verloren gegangen ist.“
„Du bist schon ewig wieder in England“, sagte Toby vorwurfsvoll.
Jack vermutete, dass das der Grund war für Tobys Zorn. Es hatte ihn gekränkt, dass sein Vater ihn so
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