Die Braut des Vagabunden
dass die Begrüßung so ausgefallen war, wie er es erwartet hatte.
Jacks Mutter hatte Lord Swiftbourne eingeladen. Temperances verwirrte Gedanken hielten sich an dieser Tatsache fest.
„Die Duchess ist in ihrem Salon“, sagte sie. Vermutlich wollte Eleanor Lord Swiftbourne sehen, sonst hätte sie ihn nicht eingeladen. „Gewiss ist sie begierig darauf, Euch zu empfangen. Darf ich Euch zu ihr geleiten?“
„Es wäre mir ein Vergnügen.“ Swiftbourne neigte den Kopf. „Vielen Dank.“
„Und vielleicht möchtet Ihr nach der Reise etwas essen oder trinken?“, schlug sie im Gehen vor. „In einer Stunde etwa werden wir dinieren. Aber wenn Ihr jetzt hungrig sein solltet, wird Hinchcliff Euch so bald wie möglich etwas bringen.“
Sofort verneigte sich der Majordomus. „Zu Diensten, Euer Gnaden.“
„Das ist sehr freundlich“, sagte Swiftbourne. „Ich brauche nicht viel. Schickt mir einen Krug mit Bier und – falls Ihr so etwas habt …“ Er warf einen Blick auf Temperance, „… etwas Wildpastete.“
Auch bei dieser Bemerkung gelang es ihr, eine gefasste Miene beizubehalten. Sie musste Lord Swiftbourne nicht mögen, aber ihr kam der Gedanke, dass Jack und sein Großvater mehr als nur die äußere Erscheinung gemein hatten, selbst wenn Jacks Humor weniger beißend war.
„Wie heißt Ihr?“, fragte Swiftbourne.
„Temperance“, sagte sie und bemerkte, dass er von dem Treppensteigen nicht im Mindesten außer Atem war. Sie spürte, dass er viel Wert darauf legte, seine Würde zu wahren, und eine Aura von Energie umgab ihn. Trotz ihrer Vorbehalte ihm gegenüber gefiel ihr das. Sie mochte den Gedanken, Jack könnte im Alter dieselbe Stärke besitzen.
„Temperance?“, wiederholte er.
„Mein Name war Temperance Challinor“, sagte sie in dem Glauben, er wollte ihren Stammbaum erfragen. „Aus Cheapside.“ Stolz reckte sie das Kinn. Sie würde nicht so tun, als wäre sie jemand, der sie nicht war. „Jetzt lautet er Temperance, Duchess of Kilverdale.“
„In der Tat“, murmelte Swiftbourne. „Mir kam zu Ohren, dass Eure erste, heimliche Hochzeit nach einer längeren Werbung stattfand?“
„Ja.“ Temperance zögerte. Es widerstrebte ihr, in ein Gespräch über eine längere Brautwerbung verwickelt zu werden, aber sie wollte nicht unhöflich sein. „Ich war – ich bin sehr geehrt, Kilverdales Gemahlin zu sein“, sagte sie.
Swiftbournes Miene blieb undurchdringlich. „Ich glaubte zu hören, dass Euer Gemahl Euch Tempest nannte? Habe ich mich getäuscht? Das Alter fordert seinen Tribut.“
Es wäre sehr grob gewesen, seiner letzten Behauptung zu widersprechen, aber Temperance erlaubte sich zumindest einen skeptischen Blick, der zeigte, was sie dachte – dass nämlich mit Lord Swiftbournes Gehör alles in Ordnung war. „Er nannte mich Tempest“, stimmte sie zu. „Das tut er oft.“
„Warum nur?“, überlegte Swiftbourne.
„Ich habe ihn nicht danach gefragt“, erwiderte sie.
„Nein? Für mich deutet der Name auf ein stürmisches, vielleicht sogar feuriges Temperament hin“, sagte Swiftbourne. „Was meint Ihr?“
„Ich meine, dass Ihre Gnaden sich sehr freuen wird, Euch zu sehen, Mylord“, sagte Temperance und blieb vor der Tür zu Eleanors Salon stehen.
Temperance wusste nicht, wo sie Jack suchen sollte. Er hatte sich durch die Halle im Erdgeschoss zum hinteren Teil des Hauses begeben, über andere Treppen konnte er allerdings genauso gut anderswohin gegangen sein. Natürlich hätte sie durchs Haus gehen und jede Tür öffnen können, aber Jack war ein Mann, kein verloren gegangenes Kind.
Sie wünschte, sie wüsste, warum er seinen Großvater einfach so stehengelassen hatte. Sie wünschte, jemand hätte sie gewarnt, dass er das tun könnte.
Unschlüssig begab sie sich in ihre eigenen Gemächer, um sich vor dem Dinner etwas zu entspannen. Sie war sicher, dass Jack zum Essen wiederauftauchen würde. Immerhin hatte er am ersten Tag mit ihr diniert, und ihre Anwesenheit auf Kilverdale Hall war weitaus skandalöser gewesen als die seines Großvaters. Sie fragte sich, wie er sich verhalten würde – und wie sie sich verhalten sollte.
Sie ging in ihren Salon und stieß die Tür zu ihrem Schlafgemach auf. Gleich darauf blieb sie überrascht stehen.
Vor dem Fenster stand Jack, mit dem Rücken zu ihr. Er trug einen Überrock aus blauem Brokat und Spitze, aber seine Perücke hatte er abgenommen. Der Gegensatz zwischen der Eleganz seiner Kleidung und der Blöße des geschorenen
Weitere Kostenlose Bücher