Die Braut des Vagabunden
uns nach Frankreich. Er stand vor mir, kalt wie Eis, und erklärte, dass seine Verbündeten meinen Vater ermordet hatten.“
In Jacks Stimme hörte Temperance noch immer all den Zorn und den Schmerz des elfjährigen Jungen, der er damals gewesen war.
„Er hat es dir gesagt?“, fragte sie nach einem Moment. „Was war mit deiner Mutter?“
„Ihr hatte er es schon gesagt. Ich kam ins Zimmer und sah sie weinen. Ich hatte sie …“ Er schluckte. „Ich hatte sie noch nie so verzweifelt gesehen. Ich wollte wissen, was er ihr angetan hatte. Da sagte er es mir. Ich war wütend und nannte ihn einen Lügner.“
Temperance konnte sich die Szene vorstellen. Für Jack und seine Mutter musste es entsetzlich gewesen sein, solche Neuigkeiten zu erhalten. Aber sie dachte auch über Swiftbourne nach, der es auf sich genommen hatte, seiner Tochter und seinem Enkel nicht nur zu sagen, dass ihr Gemahl und Vater tot war, sondern auch, dass es seine Verbündeten gewesen waren, die ihn hingerichtet hatten. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Jacks Großvater daran Vergnügen gefunden hatte. Wäre ihm das Leid von Jack und Eleanor egal gewesen, hätte er es dann nicht anderen überlassen, ihnen die Neuigkeiten zu überbringen?
„Manchmal, wenn ich ihn überraschend sehe“, fuhr Jack fort, „ist mir, als wäre ich wieder in jenem Zimmer in Paris. Ich kann es nicht erklären.“ Er schüttelte den Kopf. „Es ergibt keinen Sinn. Ich bin sechsundzwanzig Jahre alt, nicht mehr elf. Meistens denke ich überhaupt nicht daran. Dann steht er plötzlich vor mir, und ich bin wieder elf Jahre alt. Es ist unerträglich. Ich verachte mich dafür!“
„Empfindest du jedes Mal so, wenn du ihn siehst?“, fragte sie.
„Nein. Als ich während des Brandes in sein Haus kam, dachte ich nur daran, Jakob zu finden. An Vater habe ich überhaupt nicht gedacht. Aber heute auf der Treppe …“ Jack verstummte, es war offensichtlich, dass er unglücklich war und unzufrieden mit sich selbst. Dann seufzte er. „Bald gibt es Dinner“, sagte er. „Du musst nicht über mich nachdenken. Ich werde dich nicht öffentlich in Verlegenheit bringen.“
„Jack …“ Temperance brach ab, denn sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie hatte immer Angst, sie könnte ihn in Verlegenheit bringen.
„Wenn ich weiß, dass ich ihm begegnen werde, bin ich sehr wohl in der Lage, meine Reaktionen zu beherrschen“, sagte Jack. „Wir verhalten uns kühl, aber sehr höflich zueinander. Du wirst sehen, es wird keinerlei Probleme geben.“
Es gab verspätet Essen, denn Jakob und Lady Desirée sowie Athena und ihr Gemahl Lord Halross kamen zusammen an, kurz bevor serviert werden sollte.
Jack war wütend auf sich selbst wegen der Schwäche, die er Temperance gegenüber gezeigt hatte. Noch nie hatte er jemandem von den seltsamen Gefühlen erzählt, die ihn manchmal überkamen, wenn er Swiftbourne unerwartet begegnete. Er wünschte, er hätte auch Temperance nichts erzählt – aber etwas hatte ihn dazu bewogen, in ihren Gemächern Zuflucht zu suchen. Er war ehrlich genug zuzugeben, dass es leicht gewesen wäre, ihr aus dem Weg zu gehen, wenn er es wirklich gewollt hätte.
Er wollte nicht mit seinem Großvater essen, und obwohl er seine Cousine und seinen Cousin sehr mochte, wäre es ihm lieber gewesen, ihrer höflich versteckten Neugier über seine plötzliche Heirat aus dem Wege zu gehen. In Lady Desirées Gesellschaft fühlte er sich nach wie vor unbehaglich, und ihr schien es ähnlich unangenehm zu sein, wieder als Gast unter seinem Dach zu weilen. Alles in allem entsprach die Versammlung nicht gerade seinen Vorstellungen von einer lebhaften Runde.
Unter anderen Umständen hätte er sich hinter kühler Höflichkeit versteckt – aber Temperance brauchte seine Unterstützung. Sie hatte Angst. Das hatte er erkannt an der Art, wie ihre Hand zitterte, als er sie zu ihrem Stuhl geleitete, obwohl sonst nichts an ihrer Haltung etwas davon verriet.
Jacks eigener Blick wurde immer wieder von Swiftbourne angezogen. Er verstand seinen Großvater nicht, und was er von ihm wusste, verachtete er – und doch war er von Swiftbourne fasziniert in einer Weise, die er nicht erklären konnte. Was hatte Swiftbourne zeit seines Lebens getrieben, um diesen Punkt in seinem Leben zu erreichen und einer der einflussreichsten Männer seiner Zeit zu werden? Swiftbournes Karriere hatte 1613 begonnen, als Prinzessin Elizabeth geheiratet hatte, die Tochter von James I. Swiftbourne hatte zum
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