Die Braut des Vagabunden
sie. War er glücklich gewesen, bis er sie sah? Langweilte er sich bereits mit ihr?
„Meine Liebe.“ Als er bei ihr war, nahm er ihre Hand und hob sie an seine Lippen. „Es ist beinahe an der Zeit, uns zurückzuziehen“, flüsterte er.
„Oh ja.“ Ihr Herz begann so laut zu schlagen, dass sie kaum sprechen konnte. Sie hatte mehrere Nächte das Lager mit ihm geteilt, aber die Vorstellung, vor den Augen aller Gäste das Bett zu besteigen, erfüllte sie mit Entsetzen. Sie wünschte sich, die nächste Stunde wäre vorbei, und sie würde endlich vor all den wachsamen Blicken geschützt sein.
„Es ist Zeit für uns, das Fest zu verlassen“, sagte Jack. „Lady Desirée und Athena werden sich um dich kümmern. Ich will mich nur vergewissern, dass mit Toby alles in Ordnung ist, dann komme ich zu dir.“
„Toby?“ Der Tag war so aufregend gewesen, dass Temperance kaum Gelegenheit gehabt hatte, an etwas anderes zu denken als die unmittelbar drängenden Dinge, aber ihre Sorge über das, was letzte Nacht geschehen war, hatte stets dicht an der Oberfläche gelauert. Jetzt war offensichtlich, dass auch Jack an Toby dachte.
„Soll ich – soll ich mitkommen?“ Sie wollte sich nicht aufdrängen, aber sie wollte sich so bald wie möglich wieder mit Toby versöhnen.
„Nein.“ Jack schüttelte den Kopf. „Er sollte inzwischen schlafen. Ich will mich nur davon überzeugen, dass er da ist, wo er sein sollte, und dann …“ Er verstummte und lächelte über Temperances Schulter hinweg.
Sie drehte sich um und sah, wie Lady Halross und Lady Desirée auf sie zukamen.
„Meine Damen, ich vertraue Euch meine Gemahlin an“, sagte er zu ihnen. „Ich werde umgehend wieder bei Euch sein.“
Für Temperance kam die nächste halbe Stunde einer Folter gleich. Es war ihr schon schlimm genug erschienen, sich vor ihrer Zofe zu entkleiden. Jetzt musste sie sich vor der Hälfte der weiblichen Gäste bis aufs Hemd ausziehen. Sie wusste, dass hinter der höflichen Fassade alle ihren Körper musterten. Ihre Schwangerschaft war ein offenes Geheimnis, und sie war sicher, dass alle Frauen versuchen würden zu beurteilen, wann das Kind empfangen worden war. Eins der Mädchen versuchte sogar einen Scherz darüber, dass die Braut keinen Rat brauchte, wie sie ihrem Gemahl Vergnügen bereitete – ein Blick von Eleanor brachte sie indes zum Verstummen.
Temperance war außerordentlich dankbar für die Unterstützung ihrer Schwiegermutter, Lady Desirées und Lady Halross’. Die drei Frauen blieben die ganze Zeit über bei ihr und gestatteten niemandem sonst, ihr zu helfen.
Sie war sehr erleichtert, sobald die Tür aufging und Jack hereinkam, umringt von männlichen Gästen. Er trug ein Nachthemd und seine Perücke. Temperance sah ihn an und war einen Moment lang verwirrt von diesem Anblick. Sie hatte ihn schmutzbedeckt gesehen, in Samt gekleidet und sogar nackt – aber niemals hatte sie ihn in einem knielangen Hemd und der Perücke gesehen.
Einer der Männer begann zu lachen. „Eure Braut ist überwältigt von dem, was sie erwartet.“
Temperance bemerkte, dass ihr Mund noch offen stand, und schloss ihn wieder.
„Das weiß sie doch schon“, rief eine Frau. „Sie haben doch schon vor Monaten geheiratet – oder nicht?“
„Ja“, sagte Jack. Er ging auf Temperance zu, und die Frauen, die sie umstanden, wichen zurück, um ihn hindurchzulassen.
Er legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich. Sie fühlte seinen warmen Körper durch den Stoff ihrer beider Hemden. Sie sah ihn an, erschrocken von der kühnen Tat, und er küsste sie direkt auf den Mund.
„Wir kennen beide unsere ehelichen Pflichten“, sagte er, als er den Kopf hob. „Und die Strümpfe wurden schon vor Monaten in London geworfen, daher ist es nicht nötig, das heute zu tun.“ Er betrachtete die Menschen, die sich in dem Schlafgemach drängten. „Meine Gemahlin und ich danken Euch für alle guten Wünsche und sagen Euch eine gute Nacht.“
Es war unmissverständlich ein Befehl, und in seiner Stimme lag ein Unterton, der keinen Zweifel ließ an den üblen Konsequenzen, die eine Weigerung haben könnte.
Temperance hörte ein wenig unzufriedenes Gemurmel, doch schon begannen einige der Gäste, sich widerstrebend zur Tür zurückzuziehen. Der Auszug der Ersten ermutigte auch die Letzten, vor allem, als Lord Halross und Eleanor ihre Autorität einsetzten. Sogar Dorothea ließ sich von dem kühlen Blick der Dowager Duchess beeindrucken.
Nachdem alle gegangen
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