Die Braut des Vagabunden
in dem vergeblichen Versuch, ihn zu klären. „Jeder hat mich angesehen. Ich habe noch immer das Gefühl, ihre Blicke auf meiner Haut zu spüren. Wie Läuse.“ Sie erschauerte. „Nie wieder werde ich zulassen, dass mich jemand in meinem Hemd sieht. Niemals! Ich glaube nicht, dass ich heute Fehler gemacht habe, oder? Jedenfalls keine großen.“ Sie umfasste sein Handgelenk.
„Du hast überhaupt keine Fehler gemacht.“ Sein Tonfall klang sanfter.
„Ich habe mich wie eine richtige Duchess benommen? Sogar in meinem Hemd?“
„Ja.“
„Gut.“ Ihre Spannung ließ ein wenig nach. Ihr wichtigstes Ziel für den heutigen Tag hatte sie erreicht. Sie seufzte und schloss die Augen. „Ich wollte, dass du stolz auf mich bist …“, murmelte sie.
Als sie vorwärts sank, fing Jack sie auf. Einen Augenblick lang fürchtete er, sie würde ohnmächtig werden, aber ihr Puls und ihr Atem waren stark und gleichmäßig. Wie es schien, war sie einfach zu müde, um länger wach zu bleiben.
Er hob sie hoch und trug sie zum Bett. Dann deckte er sie sorgfältig zu und setzte sich auf den Rand der Matratze neben sie. So hatte die Nacht nicht enden sollen.
Während sie ihn zur Seite gestoßen und ihm gesagt hatte, sie könnte nichts mehr vortäuschen, hatte er ihr sagen wollen, dass er sie liebte. Er wusste nicht, was sie gemeint hatte. Doch gewiss nicht, dass sie nur so getan hatte, als würde sie seine Liebe genießen? Er rieb sich die Brust. Es erstaunte ihn, wie sehr es ihn schmerzte sich vorzustellen, sie könnte seine Liebe nicht wollen. In gewisser Weise war die Angst, sie würde seine Gefühle zurückweisen, genauso schmerzhaft wie eine körperliche Wunde. Er fühlte sich nackt und angreifbar.
Er blickte auf sie hinab. Im Schein der Kerze wirkte sie blass. Unter ihren Augen lagen dunkle Schatten. Er fühlte noch einen Anflug von Panik, dass sie vielleicht nicht atmete, doch ihre Brust hob und senkte sich mit beruhigender Regelmäßigkeit. Erleichtert stieß er die Luft aus. So etwas tat die Liebe mit einem. Sie erfüllte einen mit Angst und Unsicherheit. Und mit Hoffnung – einer Hoffnung, die man zu verbergen lernt, um sich vor Spott zu schützen, wenn Träume und Pläne zu nichts führten.
Temperance mühte sich, durch Wellen der Übelkeit und einer bösen Vorahnung wieder zu Bewusstsein zu kommen. Ihre Glieder schienen an die Matratze gekettet zu sein. Endlich öffnete sie die Augen.
Sie bemerkte, dass der Raum mit bleichem Licht erfüllt war, ehe ihr die Augen wieder zufielen. Nach wie vor schien ihr Verstand vom Schlaf umnebelt, aber das Gefühl, dass etwas Wichtiges geschehen war – eine Ahnung –, wurde stärker. Sie fühlte einen Anflug von Furcht, als sie sich nicht an das Warum erinnern konnte – dann fügten sich die Erinnerungen des vorherigen Tages zu einer zusammenhängenden Geschichte. Gestern war ihr Hochzeitstag gewesen. Sie war mit Jack verheiratet, und seine Hände hatten nicht gezittert, als er das Gelübde gesprochen hatte. Sie seufzte erleichtert und drehte sich um, um ihn anzusehen.
Er lag nicht neben ihr im Bett.
Etwas stimmte nicht. Und dann fiel ihr ein, dass sie in der Nacht zuvor seine Liebe zurückgewiesen hatte. Das alles war sehr verschwommen, dennoch wusste sie, sie hatte ihn mehr als einmal zurückgestoßen. Sie schloss die Augen und unterdrückte ein Seufzen. Wie konnte sie Jack in ihrer Hochzeitsnacht zurückweisen? Es war die Pflicht einer Ehefrau, ihrem Mann Vergnügen zu bereiten. Und sie wollte ihm Vergnügen bereiten.
Sie rollte sich vor Kummer zusammen. Gerade jetzt, da sie sich um Toby sorgte und wusste, dass zumindest einige Mitglieder des örtlichen Adels verächtliche Äußerungen über ihre Ehe machten, wollte sie Jack eine gute Ehefrau sein. War seine Abwesenheit an diesem Morgen ein Zeichen für seinen Ärger, weil sie sich ihm in der Hochzeitsnacht verweigert hatte? Sie musste Jack finden und ihm zu verstehen geben, dass sie ihn nicht zurückgewiesen hatte. Am Ende eines sehr anstrengenden Tages war sie einfach zu erschöpft gewesen. Und vielleicht könnte sie beiläufig den Namen Anne Lidstone in das Gespräch einfließen lassen. Nur ein Dummkopf würde einfach so glauben, was jemand wie Dorothea sagte. Vielleicht war Anne eine ältere Witwe, der er eine Unterstützung zahlte, oder es würde eine andere harmlose Erklärung geben, warum Temperance ihren Namen kannte. Aber bis sie das sicher wusste, würde sie nicht aufhören können, sich Sorgen zu
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