Die Braut im Schnee
Augen.
Als Eissler zurückkam, war er sichtlich nervös. «Toller ist verschwunden. Er ist nirgends aufzutreiben. Wir müssen etwas unternehmen.»
Marthaler war aufgesprungen. «Dann müssen wir umgehend eine Großfahndung einleiten. Wir müssen seine Wohnung, Keller und Dachboden durchsuchen. Wir müssen sehen, ob er irgendwelche Verwandten oder Freunde hat, bei denen er sich aufhält. Irgendwo muss er sein. Und irgendwo muss auch Kerstin sein.»
«Es ist noch etwas geschehen», sagte Eissler. «In das Hotelzimmer von Stefanie Wolfram wurde eingebrochen.»
Marthaler hatte das Gefühl, als habe man ihm einen Schlag versetzt. «Und … ist sie …?»
«Nein. Ihr ist nichts geschehen. Sie war gerade im Pool des Hotels schwimmen. Als sie zurückkam, hat sie entdeckt, dass ihre Zimmertür aufgebrochen wurde. Das Ganze ist wohl bereits heute Morgen passiert.»
«Und warum erfahren wir erst jetzt davon?»
Eissler zuckte die Schultern. «Wenn ich es richtig verstanden habe, hat sie das Hotel einfach verlassen, ohne zu sagen, wo sie hingeht. Eine Dame von der Rezeption hat am Nachmittag im Präsidium angerufen, um herauszufinden, wer nun die Rechnung für das Zimmer bezahlt.»
«Dann müssen wir uns auch um Stefanie Wolfram kümmern», sagte Marthaler. «Aber das muss Konrad Morell übernehmen, ein Kollege aus Darmstadt.»
Als das Gepäck verstaut war und sie endlich alle im Zug saßen, konnte Sabine Steinwachs ihre Unruhe kaum noch verbergen. Schon zum zweiten Mal stand sie auf, ging ins Raucherabteil und steckte sich eine Zigarette an, die sie kurz darauf wieder ausdrückte. Dann kehrte sie zu ihrem Platz zurück, setzte sich ans Fenster, lehnte die Stirn an die kalte Scheibe und schaute schweigend nach draußen.
Die Woche war gut verlaufen. Sie waren Ski gefahren, hatten lange Wanderungen gemacht, gemeinsam über das schlechte Mittagessen gestöhnt und abends erschöpft im Kaminzimmer gesessen, noch zwei Stunden Karten gespielt oder einfach nur geredet. Die befürchteten Konflikte zwischen den Schülern waren ausgeblieben. Alle hatten sich an den gemeinsamen Unternehmungen beteiligt. Und selbst die beiden Einzelgänger der Klasse wirkten schon am zweiten Tag so, als könnten auch sie für eine Weile Spaß daran finden, sich einzufügen. Für ein paar Tage hatte sie wieder gewusst, warumsie den Beruf der Lehrerin einmal für den schönsten der Welt gehalten hatte.
Eigentlich hatten sie sogar noch zwei Nächte länger in der Jugendherberge unterhalb der Wasserkuppe bleiben wollen. Weil aber seit Donnerstag sämtliche Heizungen ausgefallen waren, hatten sie gemeinsam mit den Schülern beschlossen, bereits heute abzureisen. Am Nachmittag waren sie in einen Bus gestiegen, der sie über Land zum Bahnhof nach Fulda gebracht hatte. Nachdem sie zwei überfüllte Züge passieren lassen mussten, hatten sie im dritten schließlich Platz gefunden. Jetzt fuhren sie in der Dunkelheit durch die verschneiten Landschaften der Rhön in Richtung Süden.
«Was ist los mit dir?», fragte Jürgen Manholt, einer der beiden jungen Kollegen, mit denen sie die Freizeit betreut hatte und der ihr jetzt im Speisewagen an dem kleinen Tisch gegenübersaß.
«Was soll los sein?»
«Du wirkst so aufgekratzt. Hast du deinen Mann immer noch nicht erreicht?»
Sie sah ihn an. Einen Moment lang war sie versucht, seine Frage zurückzuweisen. Dann entschied sie sich anders. «Nein. Ich versuche es seit Tagen. Er meldet sich nicht.»
«Und?»
«Ich mache mir Sorgen.»
Jürgen Manholt lachte. «Na, komm. Vielleicht genießt er es einfach, für eine Weile Strohwitwer zu sein, und verbringt die Zeit mit seinen Freunden.»
Sie nickte. «Ja. Vielleicht hast du Recht. Aber wir haben uns letzten Sonntag im Streit getrennt und seitdem nicht mehr gesprochen. Ich habe kein gutes Gefühl. Nicht einmal der Anrufbeantworter ist eingeschaltet.»
«Und worüber habt ihr gestritten? Gibt es Grund zur Eifersucht?»
Sie lachte kurz auf. «Eifersucht. Das klingt so … normal», sagte sie, «so, als könne man drüber reden.»
«Und ihr könnt nicht reden?»
«Das Problem ist: Es gibt nichts zu reden. Er ist nett, rücksichtsvoll, freundlich. Ich habe keinen Grund, mich zu beklagen. Und das ist es auch, was mir alle sagen: meine Freundinnen, mein Vater, meine Mutter. Alle gratulieren mir zu diesem wunderbaren Ehemann.»
«Und? Aber?»
Einen Moment überlegte sie, wie weit sie gehen durfte, wie viel sie einem Kollegen über ihre Ehe preisgeben
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