Die Braut im Schnee
durfte. «Unsere Ehe ist mausetot. Wir haben seit anderthalb Jahren nicht mehr miteinander geschlafen.»
«Du nimmst an, dass er eine andere hat?»
Sie schüttelte den Kopf. «Was er hat, weiß ich nicht. Manchmal wird er unruhig, manchmal verschwindet er für zwei Tage und fährt mit seinem Motorrad durch die Gegend. Dann kommt er wieder und sagt nicht, wo er war.»
«Und du fragst ihn nicht?»
«Natürlich frage ich. ‹Rumgefahren bin ich›, sagt er. Das ist alles. Und wenn wir mal gemeinsam freihaben, geht er in seinen Hobbykeller und schließt sich ein. Ich rede gegen eine Wand. Ich rede und rede, während er freundlich bleibt und schweigt. Am Ende bin immer ich es, die wie eine Hysterikerin schreit.»
«Aber ihr habt euch mal … geliebt?»
Sabine Steinwachs sah hinaus in die Dunkelheit. «Ich weiß es nicht mehr», sagte sie. «Ich war sehr unerfahren, als wir uns kennen lernten. Ich war froh, dass er mich in Ruhe ließ. Ich habe studiert, er hatte schon seine Stelle bei der Polizei und hat das Geld verdient. Ich bin ihm dankbar. Aber ich kann nicht mehr. Ich fühle mich selbst schon wie tot.»
«Hast du einen anderen?»
Sie sagte nichts. Sie hatte den Kopf gesenkt und schaute vor sich auf den Tisch. Aber schließlich nickte sie.
Als der Zugführer die bevorstehende Ankunft auf dem Frankfurter Hauptbahnhof ankündigte, zog sie ihren Mantel über.
Jürgen Manholt nickte ihr zu: «Nun geh schon!»
Sie nahm ihr Gepäck, verabschiedete sich von den Kollegen und Schülern und stellte sich auf den Gang, um möglichst rasch den Zug verlassen zu können.
Sie eilte den Bahnsteig hinunter, umrundete die Gruppe, die selbst zu dieser späten Stunde noch auf den Großbildschirm starrte, und lief zum Taxistand.
«Nach Nieder-Eschbach», sagte sie.
Weil die A 5 hinter dem Westkreuz wegen eines Unfalls gesperrt war, mussten sie den Weg durch die Stadt nehmen. Sie fuhren über den Alleenring, am neuen Polizeipräsidium vorbei bis zum Hauptfriedhof, und bogen dort nach links ab. An der Anschlussstelle Eckenheim konnten sie die A 661 nehmen.
Mehrmals bat sie den Taxichauffeur, schneller zu fahren. Sie sah, wie der Mann den Kopf ein wenig drehte und sie im Rückspiegel anschaute.
«Geht nix schneller», sagte er und zeigte mit einer vagen Handbewegung nach draußen. Es hatte wieder heftiger Schneefall eingesetzt.
Sie nickte und sah auf die Uhr. Als sie das Ortsschild von Nieder-Eschbach passierten und kurz darauf nach links in die Neubausiedlung einbogen, war es fast Mitternacht.
Am unbeleuchteten Küchenfenster des Nachbarhauses wurde eine Gardine zur Seite geschoben. Der Taxifahrer wartete, bis sie die Eingangstür aufgeschlossen hatte. Dann fuhr er davon.
Das Haus war dunkel. Sie stellte die Tasche in den Flur undhängte ihren Mantel an die Garderobe. In keinem Zimmer brannte Licht.
Sie rief seinen Namen, erwartete aber nicht, eine Antwort zu bekommen.
Aus der Küche hörte sie das Gekreisch des Wellensittichs. Sie schaltete die Deckenlampe ein und ging zum Käfig. Der Hirsekolben, der an dem Drahtgitter hing, war vollständig abgenagt. Im Futternapf waren nur noch leere Hülsen. Der Sand auf dem Boden des Käfigs war verschmutzt. Es war nicht zu übersehen, dass sich seit Tagen niemand mehr um den Vogel gekümmert hatte. Sie ging zum Küchenschrank und füllte neue Körner in den kleinen Plastikbehälter. Sofort beruhigte sich das Tier.
Sie schaute sich um. Auf dem Tisch stand ein halb voller Topf mit Suppe, eine leere Bierflasche und ein benutzter Teller. In der Spüle türmte sich das schmutzige Geschirr.
Einen Moment stand sie still und lauschte. Sie hatte geglaubt, aus dem Keller ein Geräusch wahrzunehmen. Aber es war nichts zu hören. Dann machte sie das Radio an und ließ es leise spielen.
Sie ging durch alle Zimmer und schaltete die Lampen an. Im Badezimmer lagen zwei benutzte Handtücher im Waschbecken. Die Zahncreme lag ohne Deckel auf der Ablage. Überall auf dem Boden zwischen Bad und Schlafzimmer waren seine Kleidungsstücke verstreut. Es sah aus, als habe er jedes Stück dort liegen lassen, wo er es gerade ausgezogen hatte. Seine Seite des Ehebettes war zerwühlt, ihre war unberührt. Die Türen des Schlafzimmerschranks standen offen. Es sah aus, als habe hier ein rastloser Mensch gehaust. Als sei jemand binnen weniger Tage verwahrlost.
Sie beschloss, diese Nacht nicht in ihrem Haus zu verbringen, sondern ins alte Dorf zu gehen, wo ihre Eltern wohnten. Sie schaltete das Radio und die
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