Die Braut im Schnee
debattierten, klappte der Chef der Spurensicherung seine Aktentasche auf und zog ein dickes Kuvert hervor.
«Hier», sagte er und reichte Marthaler einen Stapel Fotos. «Die Kollegin aus der Dokumentation hat uns eine erste Auswahl von Tatort-Aufnahmen ausgedruckt. Ich will euch nicht den Appetit verderben, aber ich denke, alle sollten die Bilder kennen, bevor wir anfangen zu reden.»
Marthaler nickte. Er nahm die Fotos und gab sie, ohne einen Blick darauf zu werfen, an Manfred Petersen weiter. Dann ging er in die Küche, um Wein und Gläser zu holen. Als er zurückkam, lag ein Teil der Aufnahmen ausgebreitet auf dem Tisch. Es herrschte bedrücktes Schweigen. Selbst Kai Döring, der wegen seiner vorlauten Sprüche bei allen gleichermaßen beliebt und gefürchtet war, schaute stumm vor sich hin. Aus seinem Gesicht war jede Farbe gewichen, was seine Sommersprossen umso deutlicher hervortreten ließ. Kerstin Henschel griff nach einem Foto, auf dem das entstellte Gesicht der toten Gabriele Hasler zu sehen war. Sie schüttelte den Kopf, legte das Bild fast im selben Augenblick wieder zurück und ließ ihre Hand sinken.
Manfred Petersen war aufgestanden und hatte sich von den anderen abgewandt. Er strich sich übers Gesicht, als könne er so das eben Gesehene beiseite wischen. «Entschuldigt», sagte er, «aber auf einen solchen Anblick war ich einfach nicht gefasst.»
Petersen war erst seit kurzem Mitglied der Mordkommission. Er war Schutzpolizist gewesen, hatte aber die Abteilung für Tötungsdelikte vor mehr als drei Jahren bei den Ermittlungen in einem schwierigen Fall unterstützt. Damals hatte ihn Marthaler schätzen gelernt. Und ihn schließlich überzeugen können, sich nachträglich für den gehobenen Dienst ausbilden zu lassen. Petersen hatte in fast allen Fächern mit Bestnoten abgeschlossen, aber sein Vorgesetzter wusste, dass ihm das in diesem Augenblick nicht half. Es gab Erfahrungen, auf die einen keine Ausbildung vorbereiten konnte.
Marthaler atmete hörbar aus. «Es gibt keinen Grund, sich zu schämen», sagte er, «keinem von uns geht es anders. Auf so etwas kann man nicht gefasst sein. Nicht einmal in unserem Beruf.»
Es war Kerstin Henschel, die die anschließende Stille unterbrach: «Vielleicht wäre es das Beste, ihr würdet erst einmal erzählen, was ihr bislang wisst. Und bitte, versucht euch auf die Fakten zu beschränken, versucht auf Schlussfolgerungen vorerst zu verzichten.»
Walter Schilling schaute in die Runde. «Wenn ihr einverstanden seid, fange ich an.» Nacheinander erstatteten er, dann Robert Marthaler und schließlich Sven Liebmann Bericht. Die anderen hörten zu, machten sich Notizen und stellten gelegentlich eine Zwischenfrage. Um 21.30 Uhr schaute Marthaler auf die Uhr. Es hatte lange gedauert, bis alle auf dem gleichen Informationsstand waren. Trotzdem hatte er das Gefühl, dass sie noch gar nichts wussten. Dass sie seit dem Vormittag keinen Schritt weitergekommen waren.
«Es ist wie verhext. Alle wussten, wer Gabriele Hasler war; aber keiner kannte sie», sagte Liebmann.
«Was meinst du damit?», fragte Petersen.
«Egal, wo ich heute Nachmittag das Foto herumgezeigt habe, in der Kneipe, im Supermarkt, in der Nachbarschaft –alle wussten, dass es sich um die Zahnärztin aus dem Haus am Bahndamm handelt. Aber niemand konnte mir irgendetwas über sie erzählen. ‹Ja, die hat hier eingekauft. Ja, die hat hier mal eine Bratwurst gegessen. Ja, die hab ich öfter an der Haltestelle gesehen.› Das war alles, was ich zu hören bekam. Es scheint in ganz Oberrad keinen zu geben, der mehr mit ihr zu tun hatte.»
«Was erwartest du?», sagte Marthaler. «Wir haben gerade erst mit unseren Ermittlungen begonnen. Morgen werden wir unsere Befragungen fortsetzen. Wir werden den Taxifahrer ausfindig machen, in dessen Wagen sie gestern Abend gestiegen ist. Wir werden zum ersten Mal wirklich mit dem Verlobten sprechen können. Wir werden das Material sichten, das Walter Schilling und seine Leute sichergestellt haben. Wir werden feststellen, ob es Verwandte und Freunde gibt. Wir werden irgendwann ein Obduktionsergebnis bekommen. Wir stehen erst ganz am Anfang. Macht euch das bitte klar.»
Marthaler versuchte, seine Leute zu ermutigen. Er wollte nicht, dass schon jetzt der Eindruck entstand, ihre Arbeit könne vergeblich sein. Doch trotz seiner Worte ahnte er, dass etwas von dem, was Sven Liebmann gerade geäußert hatte, richtig war. Es traf sich mit dem, was er selbst bereits am
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